„(…) daß alles, was man sieht und tut und berührt, jeder Samen, den man aussät oder nicht aussät, Teil der eigenen Bestimmung wird (…).“
Sie nennen sich ShivaMarion. Gemeinsam auf die Welt gekommen, in nur wenigen Sekunden Abstand, bleiben sie viele Jahre unzertrennlich. Was die beiden eineiigen Zwillingsbrüder Shiva und Marion vereint, ist nicht nur ein identisches Aussehen und ein gemeinsames Schicksal, sondern auch eine Heimat – Addis Abeba, die Hauptstadt Äthiopiens. Ihr Zuhause ist das christliche Hospital Missing. Ihre Mutter, die engagierte aus Indien stammende Schwester Mary Joseph Preise, ist bei der Geburt gestorben, ihr Vater, der geschätzte englische Chirurg Thomas Stone, hat nur wenige Minuten nach der schweren und unheilbringenden Entbindung das Weite gesucht, vom Schmerz zerissen, angesichts des Todes seiner großen Liebe.
Mit jenem tragischen Lebensanfang der zwei Brüder nimmt das Schicksal und der Roman „Rückkehr nach Missing“ von Abraham Verghese seinen Lauf. Shiva und Marion wachsen in der Obhut der Hebamme Hema und des künftigen Chirurgen Gosh auf. In einem traditionsreichen Land, das sich stolz auf seine Unabhängigkeit zeigt, allerdings von Konflikten, einem Vielvölkergemisch und Armut geprägt ist. All das schlägt sich nieder im Leben der Brüder, die in der geschützten Atmosphäre aufwachsen und von allen Hospital-Mitarbeitern nahezu vergöttert werden. Mit der Zeit erfahren die beiden eine Abnabelung voneinander. Es ist Marion, der die Geschichte erzählt und von den wachsenden Unterschieden zu seinem Bruder berichtet. Der Spalt wird größer, als Marion sich in Genet verliebt, die Tochter der Dienerin Rosina. Doch Shiva drängt sich dazwischen – ein Verhalten, das vermutlich ungewollt das Leben beider verändert. Denn als Genet sich in der eritreischen Volksbefreiungsfront aktiv wird, muss Marion aus dem Land fliehen, das nach einem Machtwechsel nun unter der Herrschaft eines Militärdiktators steht. New York wird Marions zweite Heimat, in einem Krankenhaus versieht er als Mediziner seinen Dienst. Mit den Jahren steigt er die Karriereleiter hinauf, während sein Bruder Tausende Kilometer entfernt Hema bei ihrer Arbeit unterstützt und zu einem Experten in seinem Fachgebiet wird. Doch ein tragisches Ereignis bringt nicht nur beide wieder zusammen, sondern auch ihren Vater zurück in die Familie.
Doch ein guter Familienroman kennt kein Happy-End, keine Sicherheit für seine Helden. Und „Rückkehr nach Missing“ ist ein besonders guter Familienroman, der einen zeitlichen Faden von dem Ende der 50er Jahre bis in die 90er Jahre zieht. Erneut muss der Leser mit dem Schicksal der beiden Zwillingsbrüder hadern, das auf eine Art ein versöhnendes Ende nimmt, aber erneut einen schmerzlichen Verlust fordert. Die Gefühle fahren Achterbahn, denn ergreifend und ungemein spannend ist das Buch bis zum Schluss. Verghese, selbst in Äthiopien aufgewachsen und als Mediziner praktizierend, weiß seine Helden wunderbar zu formen, ihnen einen eigenen Charakter, eine eigene Lebensgeschichte zu geben und sie in ein farbenprächtiges Panorama zu setzen, ohne die Armut und das Elend im Land zu verhehlen. Sicherlich auch Dank seiner eigenen Erfahrungen und Erlebnisse. In diesem Buch wie festgesogen, wird der Leser Teil der Geschichte, er sieht nicht nur das Hospital, das quirlige Leben in Addis Abeba, sondern riecht auch die verschiedenen Gerüche, hört die Geräusche von Menschen, Tieren und Fahrzeugen. Zudem gibt der Autor Einblicke in die Medizin der damaligen Zeit. „Rückkehr nach Missing“ ist ein besonderes Buch, weil es sehr viel Wissen rund um das Land und Geschichte sowie ergreifende Geschehnisse in einem großartig erzählten Epos vereint.
„Rückkehr nach Missing“ von Abraham Verghese erschien bereits als Taschenbuch im Insel Verlag, in der Übersetzung aus dem Amerikanischen von Silvia Morawetz.
839 Seiten, 9,99 Euro