„Wir alle sind uns selbst fremd, und wenn wir irgendeine Ahnung haben, wer wir sind, dann nur, weil wir in den Augen anderer leben.“
Er ist 64 Jahre alt. Sein Blick zurück ist ein besonderer. Denn sein Körper ist gezeichnet vom Leben. Mit schmerzhaften Unfällen in der Kindheit kamen die ersten Narben, die Herausforderung des Schriftstellerberufs, eine zerbrochene Ehe, Alkohol sowie Zigaretten und natürlich das Altern brachten die ersten Falten und grauen Haare. Wenn der amerikanische Autor Paul Auster sein Leben Revue passieren lässt, ist sein Körper Spiegel der Veränderungen, wie auch die Körper- und Beweglichkeit Ausdruck des Lebens ist.
In seinem neuesten Werk „Winterjournal“ wird seine Biografie zu einer Geschichte seines Körpers. Er erzählt von seiner Kindheit, seiner Faszination für Baseball, seinen Empfindungen, wenn der Körper den Elementen wie Wind oder Wasser ausgesetzt ist, wie der Perspektivwechsel mit dem Erwachsenwerden eintritt, als die kleinen Dinge, die man als Kind noch faszinierend betrachtet hat, unbedeutender werden, weil die Distanz zum Boden größer geworden ist. Auster schildert seine erwachenden Empfindungen für das andere Geschlecht, seine zahlreichen Liebschaften und seine besonders innige Beziehung zu seiner zweiten und jetzigen Frau – der Autorin Siri Hustvedt. Wenn er von seinen beiden Kindern oder seiner Mutter berichtet, sind Hingabe und Liebe zu spüren, wenn er von seiner gescheiterten ersten Ehe, der Begegnung mit einer Prostituierten und sein Verhältnis zu Alkohol und Zigaretten erzählt, werden Offenheit und Ehrlichkeit erkennbar.
Auster ist schonungslos. Auch wenn es um das Lebensende geht. Wenn er vom Tod schreibt, dann in Metaphern wie den Blitzen, die unberechenbar vom Himmel fahren. Doch Auster weiß, dass das Leben Zufall und Geschenk zugleich ist, das Leben wie der Tod unberechenbar sind. Zwischen all jener nachdenklichen in Melancholie abgleitenden Stimmung finden sich immer wieder Momente der Lebensfreude, der Hingabe zur eigenen Existenz. Sein Rückblick hat keine feste Form, sein Schreiben ist ebisodenhaft und wechselt schnell die Jahre, die Zeiten und die Lebensabschnitte. Wenn er seine insgesamt 21 Wohnungen und Häuser, in denen er gelebt hat, beschreibt, werden nicht nur die örtlichen Veränderungen, sondern auch jene Umwälzungen seines Leben deutlich: die Zeit als junger Mann in Paris, die Umzüge innerhalb New Yorks abhängig von der eigenen finanziellen Lage, die Suche nach einem richtigen Zuhause für seine Familie. Trotz seines literarischen Ruhms bleibt er mit beiden Beinen auf dem Boden und bescheiden, denn gerade in seiner Körperlichkeit liegt so viel an Alltäglichem und Normalem. Auch ein Herr Auster schnarcht, rülpst, wechselt die Windeln seiner Kinder und sucht regelmäßig das Klo auf.
Seine Erinnerungen schreibt er in der du-Perspektive. Ganz so als ob er ein Selbstgespräch mit sich führen würde. Dass er uns Leser jedoch daranteilnehmen lässt, ist ein großer Schatz.Und nicht nur, weil wir interessante Einblicke in das Leben und den Alltag eines berühmten Schriftstellers erhalten. Er lässt uns wissen, dass jedes Leben und jeder Körper etwas Kostbareres ist – eben weil im Leben der Zufall herrscht, im positiven wie im negativen.
„Winterjournal“ von Paul Auster erschien im Rowohlt-Verlag, in der Übersetzung aus dem Englischen von Werner Schmitz.
256 Seiten, 19,95 Euro