Doppel-Porträt – Michael Köhlmeier "Abendland"

„Aber niemand soll sich Pathos als die Fähigkeit zu mehr Leben schönreden, niemand soll von sich behaupten, er verkörpere die Idee vom schönen Leben; also können wir nur schwer erwarten, daß unser Leben mit Bedeutung vollgepackt ist.“

Der vom Leben gezeichnete trifft auf den Alten. Beide haben sich viel zu erzählen. Selbst wenn sie sich gut kennen. Schließlich war der eine der Patensohn des anderen, waren beide Leben nahezu untrennbar miteinander verknüpft. Der Schriftsteller Sebastian Lukasser trifft wieder auf den Mathematiker Carl Jacob Candoris. Es gilt, dessen Leben niederzuschreiben. Noch bleibt Zeit dafür, obwohl Candoris mit 95 Jahren am Ende seines Lebens steht. Mit diesem nahezu ein Jahrhundert umfassenden Leben hat er vieles gesehen und erlebt: Der Vater, ein Soldat, kommt aus dem Ersten Weltkrieg nicht zurück. Als Junge macht er Bekanntschaft mit Edith Stein, jener Frau, die als Jüdin Opfer des Holocaust wurde, später von der Kirche heilig gesprochen wurde. Als Doktorand geht er nach Russland, in den ersten Jahren des Dritten Reiches spioniert er für den Westen, wie weit Hitlers Deutschland im Bemühen um die Entwicklung einer eigenen Atomwaffe fortgeschritten ist. Später kommt Candoris in ein Internierungslager, wird wenig später wieder herausgeholt, um wiederum den Amerikanern innerhalb des Projektes „Manhattan“ rund um den Physiker Oppenheimer beim Bau der Atom-Bombe zu helfen. Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebt er die Nürnberger Prozesse hautnah mit.

Doch im Roman „Abendland“ des Österreichers Michael Köhlmeier erhält auch der jüngere aus diesem auf den ersten Blick ungleichen Duo Gelegenheit, sein Leben Revue passieren zu lassen. Eine große Rolle in diesem Rückblick nimmt Sebastians Vater Georg Lukasser ein. Als Jazz-Gitarrist ist er ein Genie. Er wird sowohl in seiner Heimat Österreich als auch in den USA, dem Mutterland des Jazz, verehrt. Er spielt an der Seite namhafter Musikerkollegen. Doch sein Talent ist nicht wirklich Teil seines Lebens, eher wirkt es als ein Fremdkörper, das manchmal genutzt, ein andermal vergeudet wird. In den 70er Jahren, beliebt als Musiklehrer einer Schule aber als prominenter Künstler gescheitert, zerstört von Alkohol und Depressionen, nimmt er sich das Leben. Sein Sohn Sebastian wandelt hingegen auf literarischen Pfaden und geht auch ein Stück des Weges seines Vaters, vor allem geografisch gesehen. Auch ihn verschlägt es nach Amerika, wo er sich mit seinem Talent zum Schriftsteller entwickelt: Hier entsteht sein erstes großes Werk; gezeichnet vom musikalischen Erbe seines Vaters. In einem Band setzt Sebastian Lukasser bekannte und berühmte Komponisten unterschiedlicher Zeiten und Genres in der Form von Doppelporträts gegenüber.

„Und wenn ich plötzlich verstummt war, dann weil mir klargeworden war, was für eine Last das Reden ist.“

Auch Köhlmeiers Roman ist ein solches, wenn auch weit umfänglicher Natur. Doch dieses vielschichtige wie  thematisch weit umfassende Werk braucht einige Seiten mehr. Der Österreicher verknüpft Fiktion und Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. Und wer seinen jüngsten Roman „Die Abenteuer des Joel Spazierer“ bereits gelesen hat, wird an „Abendland“ ebenfalls eine unbändige Lesefreude verspüren. Zeitebenen schieben sich ineinander, der spezielle Duktus des Erzählens sowie des Erinnerns wird mehrfach spürbar: meist in jenen Szenen, wo Candoris Lukasser von seinem Leben berichtet, manche Beichte macht. In beiden Biografien finden sich viele kleine Geschichten, die so ein mosaikartiges Panorama des vergangenen Jahrhunderts schaffen. Dabei machen nicht nur die großen Jahreszahlen, die besonderen politischen und weltgeschichtlichen Ereignisse, die sich in beider Leben widerspiegeln,  den Reiz dieses weisen Meisterwerks aus. Es sind auch die privaten Erfolge und Niederschläge, die Tragödien, die im Privaten liegen. Candoris verliert beide Eltern durch die großen Kriege, den Tod seiner Frau Margarida überwindet er kaum. Sebastians Vater begeht Suizid, seine Ehe mit Dagmar zerbricht, sein Sohn David wächst ohne ihn auf, seine zweite große Liebe, die Afroamerikanerin Marybell, mit der er in den USA eine Beziehung führt, stirbt bei einem Autounfall. Er selbst hat Krebs.

So findet sich in diesen beiden erlebnisreichen Leben immer wieder der Tod ein: im Verlust von geliebten Menschen, im eigenen Abschied, den Carl letztlich entgegensieht und Sebastian fürchtet. Der Reichtum dieses prallgefüllten Buches liegt deshalb auch in den stillen Momenten, wie jenem, als der Jüngere sich vom Älteren verabschiedet – mit dem gemeinsamen Wissen sich nie mehr wiederzusehen. Eine sanfte Szene, die magisch wirkt und einen besonders gefühlvollen Schlusspunkt noch vor dem eigentlichen Ende setzt.

„Abendland“ von Michael Köhlmeier erschien im dtv-Verlag.
784 Seiten, 9,90 Euro 

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