„Jede Sekunde, jeder Augenblick vollzog sich zum ersten und zum letzten Mal. Es war unmöglich, diesen Prozess zu unterbrechen, umzukehren oder eine Sicherheitskopie davon zu erstellen.“
Die Welt ist voller Bücher und voller Überraschungen. Manchmal kommt auch beides zusammen, überrascht ein Buch oder es gibt eine Überraschung mit einem besonderen Buch. Als ich in einer Bücherkiste in einem Freibad nach dem Roman „Nikolski“ von Nicolas Dickner griff und ihn wenig später auch las, erlebte ich nicht nur schöne Lesestunden, sondern auch eine wunderbare Überraschung. Der Name des Autors sagte mir bis dato nichts. Der Klappentext verhieß, dass es sich um einen Bestseller aus Kanada handelte. Nun gut, ab und an sollte man den Versprechungen der Verlage nicht unbedingt vertrauen. Aber in diesem Fall schon.
Erzählt wird die Geschichte von drei Jugendlichen, die in unterschiedlichen Regionen Kanadas aufwachsen. Da ist der Ich-Erzähler, dessen Name ohne Bedeutung ist. Er arbeitet in einem Antiquariat. Nach dem Tod seiner Mutter stößt er neben ihren Tagebüchern auf eine besondere Hinterlassenschaft seines Vaters, der die Familie frühzeitig verlassen hat. Einen Kompass, dessen Nadel immer nach Nikolski weist, einem kleinen Ort auf den Aleuten hoch oben nahe Alaska mit drei Dutzend Einwohnern und 5.000 Schafen. Der zweite im Bunde ist Noah. Er wächst in einem Wohnwagen auf, der nie lange an einem Ort verweilt, durch die Prärie zieht, weil seine Mutter womöglich Angst vor dem Meer hat. Mit 18 Jahren verlässt er seine Mutter und das Nomaden-Leben, um in Montreal Archäologie zu studieren. Dorthin hat es auch Joyce verschlagen, um auf den Piraten-Spuren ihrer Familie zu wandeln. Zuvor war sie auf eine Zeitungsnotiz über eine nahe Verwandte gestoßen, die mit Computer-Kriminalität und Kreditkarten-Betrug zu einer modernen Piratin geworden ist.
Was alle drei nicht wissen: Sie sind miteinander verwandt. Der Buchhändler und Noah haben denselben Vater, der wiederum der Onkel von Joyce ist. Jonas Doucet ist ein Weltenbummler, der auf den Meeren der Welt zu Hause war, sich nie lange in einer Gegend oder bei einer Familie aufgehalten hat. Man munkelt, er habe sich in Nikolski niedergelassen. In Montreal kreuzen sich schließlich die Wege der drei Jugendlichen, ohne das sie davon ahnen oder voneinander wissen. Alle drei führen ein recht eigenständiges Leben, das jedoch Ähnlichkeiten aufweist. Alle widmen sich mehr und oder weniger mit dem Thema Rastlosigkeit und Entscheidungen, das Leben auf den Kopf zu stellen, eine neue Identität anzunehmen. Vielleicht auch in Form einer Flucht. Noah hat seine Mutter verlassen, beschäftigt sich in seinen Studien mit alten Kulturen indigener Indianer-Völker, die vertrieben wurden. Joyce hat ihr einsames Fischerdorf samt ihrer verrückten Verwandtschaft verlassen. In Montreal arbeitet sie in einer Fischfabrik, nebenher beschäftigt sie sich mit Computertechnik, die sie in Mülltonnen findet. Auch das ein Thema, das sich durch dieses Buch zieht wie ein roter Faden: Müll als Hinterlassenschaft der modernen Welt. Während Noah seiner Freundin Arizna nach Venezuela folgt, wird Joyce später von der Polizei verfolgt untertauchen. Und der Kompass ist nicht die einzige merkwürdige Hinterlassenschaft, welche die Protagonisten verbindet. Auch das Buch ohne Gesicht, ein Zusammenschnitt mehrerer Werke rund um die Seefahrt und Freibeuterei, spielt eine nicht unwesentliche Rolle.
Über das Leben der drei Helden wird abwechselnd und über mehrere Jahre erzählt, allerdings in einer besonderen Weise, die schon am Schriftbild des Romans erkennbar ist. Es sind immer kurze Absätze aus wenigen Sätzen, die aufeinanderfolgen; quasi ein Telegramm-Stil, der als Stilmittel im Übrigen im Roman auch eine inhaltliche Entsprechung findet: Die Mutter des Buchhändlers hat ihre Tagebücher in jenem Telegramm-Stil verfasst. Nicht nur diese innovative Form macht das Werk des Kanadiers zu etwas Besonderen. Es sind auch die wunderbar ausgestalteten Figuren mit ihren nicht alltäglichen Lebensläufen, die schnellen und spannungserzeugenden Wendungen sowie die den Leser nachdenklich stimmenden Themen, die den Roman zu einem Meisterwerk werden lassen.
Nicolas Dickner, 1972 im kanadischen Quebec geboren, erhielt für seinen Debütroman mehrere Preise. In seiner Heimat stellte die Literaturkritik seinen Roman neben den Bestseller „Schiffbruch mit Tiger“ von Yann Martel.
Der Roman „Nikolski“ von Nicolas Dickner erschien im btb-Taschenbuchverlag, in der Übersetzung aus dem Französischen von Andreas Jandl.
304 Seiten, 9,99 Euro