Das Leben des Einen und der Anderen – James Salter „Alles, was ist“

„Das Leben, das nicht vorhersehbar war, das Leben, das sich ihm eröffnet und das er gelebt hatte.“ 

Was bedeutet ein Leben? Das Fließen der Zeit zwischen Geburt und dem Tod, Erlebnisse und Begegnungen, Erfolge und Tiefschläge, Erfahrungen von Liebe, Freundschaft und Hass aneinandergereiht?  Vor allem aber hat es so viel zu bieten. In dieser Zeit kann viel geschehen. Auch im Leben von Philip Bowman. Als junger Mann erfährt er das schreckliche Ausmaß des Zweiten Weltkriegs hautnah aus nächster Nähe – als Marine-Soldat im Pazifik. Er überlebt, während andere Kameraden ihr Leben ließen. Bowman kehrt zurück, studiert, findet eine Anstellung als Lektor in einem renommierten New Yorker Verlag und mit Vivian die erste Liebe seines Lebens. Was dann kommt sind Veränderungen, nichts bleibt, wie gedacht und erhofft – das Leben halt. Aber das gibt ausreichend Stoff für Romane, andere Werke beweisen es. Bestes Beispiel: die beiden herausragenden Bücher „Stoner“ von John Williams und „Ein ganzes Leben“ von Robert Seethaler. Und nun James Salters Roman „Alles, was ist“, der mit seinem eindeutigen wie sicherlich auch diskussionsanregenden Titel – das Original ist mit „All That is“ überschrieben –  die Neugierde weckt.

Doch anders als die beiden zuvor erwähnten Werke konzentriert sich Salter nicht nur auf seinen Helden. Wie bei einem Theaterstück stellt er weitere seiner Charaktere ins Rampenlicht, um ihre Herkunft und ihren gesellschaftlichen Stand, ihr alltägliches Dasein und ihre Tragödien zu beleuchten. Das sind Familienmitglieder wie die Mutter Bowmans, die, von ihrem Mann verlassen, ihren Sohn allein großzieht, die Angehörigen seiner Frau Vivian oder Kollegen wie Eddins, der nach einem Unglück in einer Eisenbahn Frau und Tochter verliert. Aber immer wieder findet Salter den Weg zu Bowman zurück. Der hat mittlerweile seine Scheidung hinter sich, lernt nach der Affäre mit der Engländerin Enid weitere Frau kennen. Eine wird ihn hintergehen. Beruflich geht Bowman seinen Weg. Er bewegt sich mit Leichtigkeit in der Welt der Literaten und der Bücher, ist oft auch in Europa unterwegs, er liebt gutes Essen, Partys und später auch weit jüngere Frau. Obwohl er in der Metropole arbeitet, zieht es ihn immer wieder aufs Land, vor allem in die Nähe des Meeres, wo er sich in einem Häuschen zurückziehen kann.

Salter, 1925 in New York geboren und 1998 ausgezeichnet mit dem PEN/Falkner-Award, versammelt sowohl Schicksale als auch Etappen des Lebens. Krankheit und Tod zählen ebenfalls daa dazu, davon bleiben bekanntlich auch die Gutsituierten der „upper class“ nicht verschont. Der Erzählstrom ist atmosphärisch dicht mit lebendigen und authentischen Dialogen sowie einem beeindruckenden weil sehr genauen Blick für die Umgebung, das Äußere anderer Menschen und die Stimmung von Situationen und Begegnungen. Man gewinnt den Eindruck, der Leser sieht durch die Augen Bowmans sein Umfeld und seine Mitmenschen. Immer wieder fließen in das Erzählen auch geschichtliche Ereignisse ein: der Zweite Weltkrieg, das Kennedy-Attentat. Großen Raum nimmt die Welt der Verlage und das Buchgeschäft ein. Man diskutiert angeregt über Werke und ihre Schöpfer, über Erfolg und Misserfolg von Büchern und Autoren.

Das Ende des Buches ist jedoch nicht jenes, das der Leser womöglich vorausgeahnt hat. Es lässt vielmehr Spielraum für eigene Interpretationen und die Fantasie, um Bowmans weitere Lebensjahre auszufüllen. Seine Gedanken über den Tod setzen einen besonderen Abschluss hinter einer ganzen Reihe von ergreifenden wie eindrücklichen Szenen.
Zum Schluss taucht wieder der Gedanke auf: Dass das Leben die besten Geschichten erzählt, vor allem die amerikanischen Schriftsteller darin so begnadet sind. Wie einzigartig und nahezu mühelos sie die großen Themen des Lebens, von Gesellschaft und Politik in ihre Helden hineinschreiben – das verlangt immer wieder großen Respekt. Salters aktueller Roman reiht sich in die Reihe der ganz Großen ein – allerdings mit seinem ganz eigenen Helden und Stil, die zusammen eine besondere Leseerfahrung ermöglichen.

Der Roman „Alles, was ist“ von James Salter erschien als Taschenbuch-Ausgabe im Berlin Verlag, in der Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Beatrice Howeg.
368 Seiten, 10,99 Euro

2 Kommentare zu „Das Leben des Einen und der Anderen – James Salter „Alles, was ist“

  1. Mir gefallen solche Lebensgeschichten, sie sind ja in gewisser Weise Entwicklungsromane. Ich fand allerdings „Stoner“ von John Williams etwas interessanter. Übrigens meinen Glückwunsch zum Titel Bloggerpate der Leipziger Buchmesse.

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