„Ich warf einen Stein in den See. Wie ein Mensch, der versinkt, nur leiser, vielleicht ein kleiner Mensch.“
Schon das Foto auf dem Einband lässt Fragen entstehen. Ein Junge mit blondem Haar schaut durch die Dachluke eines Hauses direkt in die Kamera. Im Hintergrund ist Wasser, viel Wasser, das Meer und ein Objekt, etwas unscharf gehalten. Ein großer Dampfer? Eine Ölbohrinsel? Ein Leuchtturm? Genau wie das Meer, mal ruhig und spiegelglatt, mal verwirbelt und verschwommen, mal zügellos und unberechenbar, ist auch der neue Erzählband „Nach fünfhundertzwanzig Weltmeertagen“ von Martin Lechner.
Das Buch ist keines für den Strandkorb, in dem der Leser durch die Seiten ohne Mühe und Not segelt, von der Spannung getragen wird. Es ist vielmehr ein Werk, das einen herausfordert, wie es Literatur kann und sollte. Ich habe zu dem Band eine Art Fern-Beziehung aufgenommen. Es gab Stunden, da war ich den Texten sehr nah und sie haben mich aufgenommen. Dann wieder legte ich den Band aus der Hand und zur Seite. Weil es einfach nicht die richtige Zeit für Ungewöhnliches war. Denn ungewöhnlich sind die Erzählungen Lechners ohne Frage – inhaltlich wie sprachlich. 63 Werke sind in dem Band vereint. Einige sind kurz gehalten, wie Miniaturen, andere nehmen mehrere Seiten ein. Einige bilden zusammen eine Art Serie, weil sie sich in ihren Titeln ähneln: Es gibt Texte, die benennen Städte wie „Kopenhagen“, „Chemnitz“ und „Nizza“ oder Körperteile, verweisen auf Filme und besondere Menschen. So heißen Erzählungen „Der Verkrustete“, „Die Winterliche“ oder „Der Morgendliche“. Allerdings würde ich nicht alle Texte in die Schublade mit der Aufschrift „Erzählungen“ legen wollen. Vielmehr erinnern sie manches Mal an prosahafte Lyrik.
Einen roten Faden, der alle Werke zusammenbringt, gibt es nicht. Auffallend ist Lechners Liebe für das Absurde und einen schwarzen Humor in seiner dunkelsten Färbung. In „Der Nachbar“ steht Frau Meiners, eine über siebzig Jahre alte Dame, zur falschen Zeit am falschen Ort; nämlich an der Tür ihres Nachbarn. Ihr Leben findet ein tragisches Ende – durch ein „nachgeschärftes Brennholzbeil“. Auch andere Helden, die oft namenlos bleiben, überleben ein dramatisches Ereignis nicht. Sei es durch ein sehr blutreiches oder einen Sturz aus großer Höhe. Ein auf den ersten Blick harmonisches Geschehen wird oft durch eine überraschende Wendung in die Tiefen der Tragödie gebracht. Man hat das Gefühl, der Erzähler schlägt Haken wie ein fliehender Hase. Und während der Lektüre so mancher Geschichte ist der Gedanke an Franz Kafka nicht weit: In „Der Schacht“ macht sich in der Wohnung des Helden, direkt hinter der Türschwelle, ein Spalt auf, der sich mit der Zeit immer weiter vergrößert. Herrlich auch „Das Knie“, in der eine Frau sich in dieses Körperteil verliebt, in das linke wohlgemerkt. Meine Lieblingsgeschichte war jene vom Schäfersee, in der das Gewässer zu einem lebendigen, gedankenvollen wie erzählenden Wesen wird. Allgemein spielt Wasser eine wesentliche Rolle in diesem Erzählband und findet sich in vielerlei Größen und Formen.
„Vielleicht mussten Seen überhaupt nicht wissen, wie sich etwas für Menschen anfühlte. Schließlich wussten ja auch Menschen nicht, wie es sich anfühlte, als eine der Fledermäuse, die hier abends durch die Luft wirbelten, Insekten mit Echo zu orten. Das heißt, wenn es Seen überhaupt gab, also, in der Mehrzahl, und nicht nur einen einzigen See auf der Welt. Aber das, nein, nein, er kannte doch all diese Namen, weißer See, Wannsee, Schlachtensee, woher kamen nur solche Gedanken?“
So wie der Inhalt der Erzählungen überraschend, verrückt, manchmal auch recht obskur daherkommt, so verwehren sich die Texte stilistisch jeder Zuordnung oder konkreten Beschreibung. Lechner, der mit seinem Debüt „Kleine Kassa“ 2014 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises stand, betreibt beeindruckende Sprachartistik, in der sowohl kurze und markante als auch bandwurmartige Sätze um die Vorherrschaft ringen und markante Bilder erschaffen. Und so ein Bandwurm windet sich, so dass sein Anfang und Ende nicht mehr ersichtlich, greifbar sind. Ein Zustand, der den ungeduldigen Leser dann schon einmal zur Entscheidung zwingt, den Band einfach zusammenzuklappen oder zur nächsten Erzählung zu springen. Und auch das darf und soll Literatur, dass sie wie ein hoher Berg erscheint, an dem man sich abmüht, an den man auch vorerst scheitert, um später einen erneuten Versuch zu wagen.
Weitere Besprechungen gibt es auf den Blogs „We read indie“ und „Schöne Seiten“. Dort gibt es auch ein Interview mit Autor Martin Lechner.
Der Band „Nach fünfhundertzwanzig Weltmeertagen“ von Martin Lechner erschien im Residenz Verlag; 168 Seiten, 19,90 Euro
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