„Die Schmerzen sind reglose Weberschiffchen zwischen zwei Stoffbahnen mit zerfetzten Motiven.“
Wie soll man ein Buch beschreiben, das einen sprachlos macht? Der große Kontrast zwischen der Schönheit der Poesie und der dunklen, tieftraurigen Geschichte im Debüt des Franzosen Nicolas Clément „Nichts als Blüten und Wörter“ lässt um letztere ringen. Es ist nicht leicht, über dieses für einen Roman recht schmale Werk zu schreiben, weil der Band in einer sehr kunstvollen Sprache geschrieben ist, aber auch die Abgründe des Menschseins offenbart.
Marthe erzählt ihre Geschichte, die gleichzeitig die ihrer Familie und ihrer großen Liebe ist. Gemeinsam mit ihrem Bruder Léonce wächst sie auf einem abgelegenen Bauernhof auf. Die Familie gilt als Außenseiter, die Kinder werden von Mitschülern schikaniert. Die Mutter und die beiden Geschwister leiden unter der rohen Gewalt und Niedertracht des Vaters und sind ihm hilflos ausgeliefert. Es ist ein trauriges Leben, in das Mutter sowie Schwester und Bruder gefangen sind. Nur in ihrer gemeinsamen Zuneigung zueinander ertragen sie ihr Leid: die Schläge, die harte Arbeit in der Landwirtschaft, die kaum Platz lässt für eigene Wünsche, und die Angst vor den nächsten Wutausbrüchen des Vaters. Auch in der Liebe zu den Tieren erfahren sie Trost, Marthe zudem in ihrer Leidenschaft zu den Büchern, die sie vor dem Vater verbergen muss. Mit 16 lernt das junge Mädchen Florent kennen. Sie werden ein Paar, allerdings überschattet der Tod von Marthes Mutter, die letztlich an den Folgen der Brutalität ihres Mannes verstirbt, ihre Liebe. Während der Vater für seine Tat ins Gefängnis geht, bleiben die beiden Geschwister allein zurück. Doch diese Zweisamkeit im Schutze einer mütterlichen Freundin währt nur kurz: Denn Marthe lässt ihren Bruder allein zurück, um mit Florent in Richtung Baltimore/USA die Heimat zu verlassen. Das neue Land scheint einen fruchtbaren Boden für ein Neuanfang zu bieten. Zwischen dem Gestern und dem Heute liegt ein Ozean, haben Hoffnungen die Ängste leicht übertüncht. Die Wunden könnten also heilen. Florent startet eine Karriere als Musiker, Marthe beginnt ein Griechisch-Studium, die Klassiker der griechischen Antike begeistern sie. Doch die Ermittlungen zum Tode ihrer Mutter zwingen sie zur Rückkehr nach Frankreich – mit ungeahnten und tragischen Folgen.
An dieser Stelle soll nicht verraten werden, was an jenem Tag geschieht, als Marthe auf den Bauernhof zurückkehrt. Nur so viel: Das Leben nahezu aller Beteiligten wird eine ungeahnte Wendung erfahren, die den Leser wohl in eine gewisse Schockstarre versetzt. Wenn in Marthes Bericht mit kurzen und knappen Bemerkungen die Episoden, Ereignisse und Folgen des Martyriums wie kleine Nadelstiche fühlbar werden, ist die Szene, die alles auf den Kopf stellt, die die Hoffnung auf ein besseres Leben für Marthe vernichtet, ein Schlag wie mit einem Hammer. Das erscheint auf den ersten Blick rücksichtslos und pessimistisch, doch sind Familiengeschichten nicht leider auch oft voller Tragik und Leid, zumal diese verborgen bleiben? Dass eines Tages all diese schmerzlichen Wunden wieder aufbrechen können und Gewalt meist auch auf einem nie endenden Kreislauf beruhen kann, auch davon berichtet diese Erzählung, die rund acht Jahre im Leben Marthes aus ihrer Sicht und ihrer Rückschau umfasst.
Clément ist in Deutschland scheinbar bisher nahezu völlig unbekannt. Ein Blick ins weltweite Netz beweist es. Nur die Seite des Berliner Verlages Ripperger & Kremers, in dem dieses Debüt in deutscher Übersetzung erschien, hält Informationen zum Autor in deutscher Sprache bereit. Der Franzose, Jahrgang 1970, ist als Lehrer für Philosophie an mehreren Schulen tätig. Für sein Debüt „Nichts als Blüten und Wörter“, das 2013 in seinem Heimatland erschienen war, erhielt er gleich zwei Preise: den Leserpreis Prix Emmanuel-Roblés und den Prix du métro Goncourt, den Preis der Pariser Kommunikationsagentur Epiceum.
„Ich würde mein Leben dafür hingeben, ein Leben zu haben.“
Sein Erstling überzeugt dabei nicht nur mit einer berührenden wie beklemmenden und schmerzvollen Geschichte, die an einigen Stellen als ein modernes Märchen ohne Happy-End erscheint. In diesem Zusammenhang weist der Literaturwissenschaftler Roman Lach in einem Nachwort auf die zahlreichen märchenhaften Motive, die das Geschehen begleiten, und die Bedeutung der „Orestie“ von Aischylos und allgemein die Rolle der Sprache für die junge Heldin. Cléments Werk ist zugleich hoch-poetisch. Diese schlichte wie kraftvolle Sprache, die sich einerseits durch knappe und prägnante Sätze auszeichnet, ist andererseits reich an Bildern, Vergleichen und Metaphern. Autor und Werk sind für mich persönlich eine große Entdeckung. Jedem Leser, der melancholisch-traurige Geschichten nicht scheut und zugleich in der Literatur einen ganz eigenen sprachlichen Ton sucht, lege ich diesen Band sehr ans Herz – als unvergessliche und unvergleichliche Leseerfahrung.
Nicolas Clément. „Nichts als Blüten und Wörter“, erschienen im Verlag Ripperger & Kremers, in der Übersetzung aus dem Französischen von Bernadette Ott; 96 Seiten, 14,90 Euro
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