„Man würde gern umkehren, denkt aber sofort daran, daß Umkehren genauso gefährlich ist wie Weitergehen, und geht weiter.“
Eine Buchmesse ist nicht nur wegen ihrer Menge an Ausstellern, Gästen und ihres einzigartigen Flairs beeindruckend wie faszinierend. Sie begleitet uns eine gewisse Zeit, vor allem mit der besonderen Auswahl eines Gastlandes. In Frankfurt rückte die Literatur der Niederlande und Flanderns in den Fokus der Aufmerksamkeit, und nicht nur aktuelle Autoren und Werke. In einem Online-Beitrag des schweizerischen Rundfunksenders SRF Kultur stieß ich auf den Namen Willem Frederik Hermans (1921 – 1995). Er war mir bekannt durch zwei Neuausgaben seiner Romane „Unter Professoren“ und „Die Dunkelkammer des Damokles“, die ich im Herbstprogramm des Aufbau-Verlages gesehen hatte. Doch es war Hermans Buch „Nie mehr schlafen“, 1966 erstmals erschienen, das in eben jenem Beitrag erwähnt und empfohlen wurde. Es führt mit seiner Handlung nach Nordnorwegen. Eng mit dem nordischen Land verbunden, war mein Interesse sofort geweckt.
Im Mittelpunkt steht der angehende Geologe Alfred Issendorf. Im Rahmen seiner Promotion verschlägt es den Niederländer nach Norwegen. Er hofft, im hohen Norden auf Funde zu stoßen, die seine These beweisen. Durch Meteoriten sollen in der Finnmark mehrere Seen entstanden sein. Doch kaum hat er das Land betreten, steht er vor Problemen: Vor allem die Suche nach notwendigen Luftaufnahmen erweist sich als nahezu unlösbar. Professor Nummedal, eine in die Jahre gekommene Koryphäe im Bereich der Geologie, lässt den jungen Wissenschaftler auflaufen. Er schickt ihn nach Trondheim ins dortige geologische Institut. Luftaufnahmen? Fehlanzeige! Issendorf tritt seine Expedition notgedrungen schließlich ohne die Bilder an – an der Seite seines norwegischen Freundes Arne und zwei seiner Mitstreiter.
Doch mit der Zeit bemerkt der Niederländer, dass die fehlenden Aufnahmen sein kleinstes Problem sind. Er ist kaum auf die Verhältnisse im hohen und kargen Norden vorbereitet. Nicht nur die hellen Nächte im nordischen Sommer machen ihm zu schaffen. Er wird von blutgierigen Mücken und der Feuchtigkeit, die in jede Ritze kriecht und auch seinen Daunenschlafsack zunichte macht, geplagt. Die langen Wanderungen in einer menschenleeren Gegend und schließlich ein Sturz bringen ihn an den Rand seiner Kräfte. Der Fall beschert ihn zudem dunkle Gedanken und Erinnerungen an seinen Vater, der als junger Mann während einer Reise in die Schweiz zu Tode gekommen war. Alfred war damals noch ein Kind von sieben Jahren, der Vater ein bekannter Botaniker, seine Mutter wird später eine angesehene, wenn auch fragwürdige Literaturkritikerin werden. Obwohl Issendorf in jungen Jahren Flötist werden wollte, sieht er seine wissenschaftliche Laufbahn als Vermächtnis seines Vaters an. Er soll und will Ruhm ernten, sein ganzes Streben und Ringen um Erfolg ist daraufhin ausgerichtet. Nachdem sich die kleine Gruppe teilt, zwei von Arnes Mitstreiter eigene Wegen gehen, ziehen Alfred und sein Freund allein weiter. Mit tragischem Ausgang, denn der Kompass, den Alfred einst von seiner Schwester erhalten hat, zeigt in die falsche Richtung. Und plötzlich steht der Niederländer allein auf weiter Flur und kein Mensch, keine Behausung gibt es in der Nähe.
Da Issendorf die Handlung komplett aus seiner Sicht erzählt, wird klar, dass er die strapaziöse Tour überstehen wird. Das tragische Ereignis im letzten Drittel trifft einen anderen, was wohl eine Überraschung für den Leser ist. Und es ist auch nicht die einzige. Trotz des sehr ernsten Themas legt Hermans einen recht humorvollen, ja sarkastischen Ton an den Tag, der sich vor allem in den herablassenden Ansichten von Norwegern und Niederländern auf die jeweils andere Nation – man lästert sehr gern – offenbart. Hinzukommen teils groteske Szenen, wie die Begegnung des Niederländers mit einer Amerikanerin in Tromsö oder die recht merkwürdige Tour mit dem fast blinden Nummedal in Oslo. Das Scheitern und eine gewisse leichtgläubige Einfalt, wenn auch nicht mit dem Tod bestraft, erinnert ein wenig an das tragische Ende des englischen Polarforschers Robert Falcon Scott, der das Rennen zum Südpol gegen den Norweger Roald Amundsen verlor und auf dem Rückweg erfroren war. Amundsen taucht in Hermans Roman auf, wenn auch nur als Statue, die noch immer in Tromsö ihren festen Platz hat. Allgemein sind Forschungsreisen und Expeditionen, der Drang des Menschen nach neuen Erkenntnissen, ein wichtiges Thema dieses Romans. Mehrfach wird unter anderem auch auf die Besteigungen der Bergriesen des Himalaja erwähnt und jene unschätzbare Hilfe, die die Sherpas leisten. Eine Unterstützung, die Issendorf nicht vergönnt ist.
„In diesem Augenblick lüftet sich ein Zipfel des Schleiers, der über dem ganzen Dasein liegt: Ich erkenne, daß ich immer und in allem schutzlos, machtlos und austauschbar bin wie ein Atom und daß Bewußtsein, Wille, Hoffnung und Furcht nichts anderes als Manifestationen des Mechanismus sind, der die menschlichen Moleküle dazu bringt, sich im unermeßlichen Dunst der kosmischen Materie zu bewegen.“
„Nie mehr schlafen“ ist reich gefüllt an weisen Worten, die sich nicht nur in den Dialogen zwischen Alfred und den Norwegern, sondern auch im Gedankenstrom des jungen Geologen finden, den letztlich mehr und mehr Selbstzweifel quälen. Die Teilnehmer der kleinen Expedition sprechen über Gott und die Welt, über Spiritualität und Wissenschaft, über die Schöpfung und die Natur. Der spannende Roman begeistert zudem durch seine eindrucksvollen Landschaftsbeschreibungen, die wohl letztlich auch Ausdruck des inneren Zustands des Helden sind. Issendorf kehrt in sein Heimatland zurück – ohne nennenswertes Ergebnis, aber schuldbeladen. Auch das ist ein Fall, wenn auch der besonderen Art.
Willem Frederik Hermans: „Nie mehr schlafen“, erschienen im Aufbau Verlag, in der Übersetzung aus dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert; 319 Seiten, 11,99 Euro (Taschenbuch-Ausgabe)
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