„Die Stille ist ein Nicht-Geräusch, wie die Nicht-Existenz, die sie leben. Wie ein Albtraum, in dem alles verschwunden ist.“
Die Welt hat glücklicherweise noch immer Regionen, an denen die menschliche Zivilisation nicht angekommen ist oder sich von dort wieder zurückgezogen hat. Wer dorthin reist, sollte besondere Fähigkeiten haben. Es braucht keinen Flug zum Mond, um Abenteuer bestehen zu können. Ziel kann da auch der südliche Zipfel Südamerikas sein. Mit ihrem Segelschiff landen Louise und Ludovic nahe Kap Hoorn. Ohne dass sie es zuvor erahnen können, wird die Insel Stromness ihr „Zuhause“, ein vielmehr unfreiwilliges Gefängnis. Denn ihr Schiff „Jason“, das mit seinem Namen nicht ohne Grund an den griechischen Helden und Führer der Argonauten erinnert, verschwindet nach einem schweren Sturm. Das Paar aus Paris bleibt zurück.
Waren Robinson und Freitag in Daniel Defoes Klassiker zu Gefährten geworden, erzählt die Französin Isabelle Autissier mit ihrem Roman „Herz auf Eis“ eine ganz andere Geschichte. Obwohl Louise und Ludovic wissen, dass sie nur gemeinsam auf dem kargen, zerklüfteten und von Gletschern überzogenen Eiland überleben können, erscheinen sie im Laufe des Geschehens wie Magnete, die sich anziehen und wieder abstoßen. Mal gehen sie gemeinsam auf Pinguin-Jagd, mal richten sie sich in der einstigen und bereits verlassenen Walfang-Station, so gut es eben geht, häuslich ein. All das verlangt Kraft, Einsatz, Ideenreichtum, gemeinsames Handeln. Doch immer wieder kommt es zwischen beiden zu heftigen Auseinandersetzungen, in denen Vorwürfe geäußert und die negativen Eigenschaften dem anderen vorgehalten werden. Ihre extremen Stimmungsschwankungen erinnern an eine wellenumtoste Fahrt auf hoher See.
Beide könnten auch verschiedener nicht sein, wie Autissier geschickt in Rückblenden in Form von Erinnerungen erzählen lässt. Ludovic, Kommunikationsmanager von Beruf, ist der unerschrockene und sorglose Lebemann aus gutem Haus, Louise, als Steuerbeamtin tätig, die eher ruhigere, bedächtigere und in sich gekehrte Person, deren große Leidenschaft das Bergsteigen ist. Die extreme Notsituation auf der Insel zwingt sie nicht nur, an den Rand ihrer Kräfte zu gehen, sondern in ihre eigenen seelischen Abgründe zu blicken. Beide sind nicht nur Hunderte Kilometer von der nächsten menschlichen Siedlung entfernt und den Elementen nahezu schutzlos ausgesetzt. Sie müssen auch eigene moralische Ansprüche ablegen und über ihren Schatten springen: Um zu überleben, gehen sie auf Jagd nach Pinguinen und Robben. Selbst Jungvögel werden getötet, um an Nahrung zu kommen. Keine Naturschutzgesetze, keine eigene Gefühle des Abscheus gelten mehr. Auch das Nichtwissen und auch Nichtwollen, wie man gemeinsam und strategisch überlebt. fordern körperlich und seelisch ihren Tribut.
„Normal zu bleiben ist eine Pflicht, wie eine Wegzehrung, um durchzuhalten. Sie sprechen es nicht aus, doch das, was ihnen deutlicher als alles andere ins Bewusstsein steigt, aus dieser Welt von vorher, sind die Dinge aus der frühesten Kindheit, die Abzählverse, die sie plötzlich summen, die Bilder vom Spaziergang mit dem Großvater, der Duft nach Schokoladenpudding. Keiner wagt es, die Regression einzugestehen, aber sie gibt ihnen Halt.“
„Herz auf Eis“ – der Roman war für den renommierten Prix Goncourt nominiert – setzt auf Schockmomente und lebt vor allem von dem Kontrast zwischen komfortabler Zivilisation und Überleben an einem menschenleerem und unwirtlichen Ort am Ende der Welt und letztlich nach der Frage der Schuld. Denn ohne zu viel vorgreifen zu wollen, die herausfordernde Mammut-Reise im Sabbatjahr, die mit viel Vorfreude begonnen wurde, endet tragisch. Auf eine ganz eigene Weise. Autissier, die bereits als Kind das Segeln erlernt hatte und 1991 die Welt umsegelte, erzählt die Geschichte der Reise in einem zweiten Teil des Romans weiter, um einer Frage auf den Grund zu gehen: Welche Kraft ist nötig für extreme Entscheidungen in extremen Situationen? Es ist dabei erstaunlich, wie es der französischen Autorin gelingt, auf eher beschränktem Raum viele verschiedene Fragen, Themen und Situationen zu verarbeiten, so unter anderem auch von dem grausamen Sterben von unzähligen Tieren zur Zeit des damaligen Wal- und Robbenfangs zu erzählen, und gleichzeitig das Geschehen und die Schauplätze in großartigen Bildern entstehen zu lassen. Autissiers Sprache ist lebendig und kraftvoll, reich an besonderen Vergleichen.
Wer ihren großartigen Roman liest, wird sich womöglich auch der Frage stellen müssen, wie er selbst in einer solchen Notsituation gehandelt hätte. Wer indes diese persönlichen Gedanken ausblendet und sich ganz auf die Protagonisten und das Geschehen konzentriert, wird in eine Geschichte abtauchen, die an einen der entlegensten Orte der Welt führt und sich mit ihrem extrem aufwühlendem Charakter in Kopf und Herz eingräbt.
Weitere Besprechungen gibt es auf den Blogs „Die Buchbloggerin“, „Literaturen“ und „Leseschatz“.
Isabelle Autissier: „Herz auf Eis“, erschienen im mareverlag, in der Übersetzung aus dem Französischen von Kirsten Gleinig; 224 Seiten, 22 Euro
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