Schmerz – Claude Simon „Das Pferd“

Wenn ich mir Szenen des Zweiten Weltkrieges von Filmen und aus Büchern vor das geistige Auge hole, denke ich vor allem an Panzer, Flugzeuge und U-Boote. An eine gewaltige Maschinerie, die bereits im Ersten Weltkrieg zu verheerenden Schlachten geführt hatte. Mir war nicht bewusst, dass in jenen entsetzlichen Jahren auch noch Pferde an der Front zum Einsatz gekommen waren. Der französische Literaturnobelpreisträger Claude Simon (1913 – 2005) diente während seiner Militärzeit und später im Krieg in einem Kavallerie-Regiment. Seine Erinnerungen hat er sowohl in seinem bekannten Roman „Die Straße in Flandern“ als auch in seiner,; einige Jahre früher erschienenen Erzählung „Das Pferd“ literarisch verarbeitet. 

Dieses kurze Stück Prosa, auf das ich dank der monatlich erscheinenden SWR-Bestsellerliste aufmerksam wurde,  war erstmals 1958 in zwei Ausgaben in der Zeitschrift „Les Lettres Nouvelles“ abgedruckt worden. Nun ist die Erzählung erstmals vollständig im Original im Heimatland des Autors sowie ins Deutsche übersetzt erschienen – in einer sehr liebevoll gestalteten Ausgabe des Berenberg Verlages, die dem Anspruch des Werkes mehr als gerecht wird. Nicht nur das eindrucksvolle Cover-Bild zieht den Blick des Betrachters auf sich. Der Band enthält zwei weitere Fotografien, die jeweils den Autor zeigen: als Schreibenden und als reitenden Soldaten.

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Ein Soldat eines Dragoner-Regiments ist es auch, der über die Ereignisse als Ich-Erzähler berichtet. Mit 48 Stunden ist das Geschehen überschaubar, auch der Handlungsort, die ländliche Umgebung und ein kleines Dorfes im Norden Frankreichs mit nur wenigen Einwohnern und Häusern, scheint sehr begrenzt. Doch auf nur etwas mehr als 40 Seiten der vorliegenden Ausgabe entfaltet der Autor die ganze unfassbare Wucht und Brutalität des Krieges, in dem der Tod ein ständiger Begleiter ist, ein Überleben nahezu wie ein Wunder erscheint.  Ein Pferd, das von seinem Reiter geschunden wird, erkrankt und schließlich verstirbt, ist Ausdruck für die unermessliche Grausamkeit der damaligen von Menschen gemachten Ereignisse, die Menschen und Tiere verschlungen haben. Während die Kriegsereignisse den namenlose Ich-Erzähler nachdenklich stimmen und zu ausführlichen Reflexionen anregen, scheinen die Szenen in dem Dorf in sich geschlossen und aus der Zeit entrückt zu sein. Die gefühlte Zeitlosigkeit an der Front findet sich an mehreren Stellen wieder.

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Foto: Dutch National Archives, The Hague, Fotocollectie Algemeen Nederlands Persbureau (ANEFO)

Neben den Beschreibungen der Ereignisse, der Landschaft und der handelnden Personen offenbart er einem inneren Monolog gleich seine Gedanken über den Krieg und die Menschen, die der Zerstörung und Vernichtung ausgesetzt sind. An einer Stelle heißt es: „(…) in der wir im selben Augenblick und fast überall in Europa zu Tausenden, oder vielmehr Zehntausenden, Hunderttausenden, Millionen nichts waren, nicht mehr zählten als Sandkörner oder allenfalls Schachfiguren, deren Verlust, deren Tod, da wir letztlich nur dazu waren, zu töten und getötet zu werden, nicht einmal als Totes zählen würde (…).“ Einen Kontrast zu den Gedanken und Beschreibungen des Erzählers in langen und komplexen Sätzen bilden die Dialoge zwischen den Soldaten untereinander oder im Gespräch mit den Dorfbewohnern. Das zweitägige Geschehen wirkt düster und in manchen Szenen kafkaesk, der jüdische Soldat Maurice, der ebenfalls erkrankt, als menschliches Ebenbild des Tieres, dessen Auge sowohl Ausdruck als auch Spiegel des Leidens ist.

In ihrem umfangreichen Nachwort zur Ausgabe geht die französische Literaturwissenschaftlerin und Autorin Mireille Calle-Gruber, die 2011 eine Simon-Biografie veröffentlicht hat, auf den Inhalt und die dreiteilige, an eine Sonate erinnernde Struktur der Erzählung sowie den Rang des Werkes innerhalb des Schaffens des Franzosen ein.  „Das Pferd“ sei ein Text, der von der „Kritik vernachlässigt“ jedoch ein „Meilenstein“ sei. In ihm verarbeitet der Schriftsteller ein Sujet, das ihn die folgenden Lebensjahre und Werke weiter begleiten sollte. Während der spätere, 1959 erschienene Roman „Die Straße in Flandern“ in die Musik übertragen eine Komposition für ein Symphonie-Orchester sei, erinnere die kurze Erzählung „Das Pferd“ an ein Werk für ein Kammer-Orchester, schreibt Calle-Gruber.

Simon, der als Sohn eines Marine-Offiziers aufwuchs und sehr früh seine Eltern verlor, geriet während des Krieges in Belgien in Gefangenschaft. Er zählt neben dem amerikanischen Schriftsteller Kurt Vonnegut  (1922 – 2007), bekannt für seinen Roman „Schlachthof 5“ (Hoffmann & Campe), zu den bekanntesten Inhaftierten des Kriegsgefangenenlagers nahe Mühlberg/Elbe (Landkreis Elbe-Elster, Brandenburg), in dem Soldaten zahlreicher Nationalitäten inhaftiert worden waren. Heute erinnert das neu eingerichtete Stadtmuseum neben der bekannten Schlacht bei Mühlberg 1547 an die Ereignisse im Kriegsgefangenenlager, das nach 1945 einige Jahre als Speziallager in der russischen Besatzungszone weiter geführt wurde. 1985 wurde Simon mit dem Literaturnobelpreis geehrt. Die Neuausgabe seiner Erzählung „Das Pferd“ sollte und kann das Interesse an Leben und Werk des Franzosen wieder erwecken.

Eine weitere Besprechung gibt es auf dem Blog „literaturleuchtet“.


Claude Simon: „Das Pferd“, erschienen im Berenberg Verlag, aus dem Französischen von Eva Moldenhauer, mit einem Nachwort von Mireille Calle-Gruber; 80 Seiten, 22 Euro

Foto: pixabay

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