Entwurzelt – Ada Dorian „Betrunkene Bäume“

„Nur manchmal, im kurzen Moment des Erwachens, empfand er Mitleid mit den Bäumen, die hier ebenso gefangen waren wie er.“

Die meisten Menschen haben ihre Topfpflanzen auf dem Fensterbrett stehen, vielleicht auch auf dem Balkon. Es sind Zimmerpflanzen, die geeignet sind für das Leben unter dem Dach und durch Wände abgeschirmt werden. Erich Warendorf weiß hingegen in seiner Wohnung Ahorn, Birke, Weißdorn und Co. um sich, die er hegt und pflegt, die sich in seinem Schlafzimmer ausbreiten und so manchen geflügelten Mitbewohner anziehen.  Der über 80-Jährige sehnt sich nach den weiten Wäldern Sibiriens, in denen er einst geforscht hat. Es ist ein besonderes Leben eines charismatischen Menschen, von dem Ada Dorian in ihrem Debüt-Roman „Betrunkene Bäume“ erzählt.

Erich, einst Wissenschafter von Beruf, lebt allein und zurückgezogen in seiner Wohnung in einem heruntergekommenen Mietshaus. Seine Tochter Irina, die bei ihm nach dem Rechten schaut, ihn nötigt, über den Einzug in ein Seniorenheim oder wenigstens über die Verpflichtung eines Pflegedienstes nachzudenken, ist seine einzige Besucherin. Das hohe Alter des Mannes macht sich zunehmend deutlich bemerkbar: die körperlichen und mentalen Fähigkeiten schwinden. Plötzlich, von einem Tag auf den anderen, taucht Katharina im Leben  des alten Mannes auf. Die Jugendliche wird seine Nachbarin, zu der er trotz eines hohen Altersunterschiedes Vertrauen aufbaut. Sie tauschen sich mit der Zeit ihre Erfahrungen, Erinnerungen und Erlebnisse aus, die Parallelen aufweisen.

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Denn beide sind „entwurzelt“ und ohne Halt: Erich hat seine Seelenheimat Sibirien und seine russischstämmige Frau Dascha verloren, die ihn verlassen hat und wieder zurück in ihre Heimat gezogen ist, weil er ein wichtige Versprechen nicht eingehalten hat. Sohn Anton lebt in Übersee und hat den Kontakt zum Vater nahezu völlig abgebrochen. Katharina fühlt sich indes von ihren Eltern verraten, deren Beziehung an einen Tiefpunkt gelangt ist, als der Vater eine Arbeit im fernen Russland annimmt. Das Mädchen schwänzt die Schule, entfremdet sich von ihrem Schulfreund Felix und verlässt das elterliche Zuhause, um nach einigen Tagen ohne ein Dach über dem Kopf in der Wohnung von Hugo, einem Dealer, dem Katharina noch etwas schuldet, zu landen.

Der auf den ersten Blick eigenwillige und die Neugierde weckende Titel „Betrunkene Bäume“ hat allerdings wenig mit Alkohol zu  tun. Vielmehr beschreibt die Bezeichnung eine reale Erscheinung: Es handelt sich dabei um jene Bäume, die, im harten Permafrostboden der sibirischen Arktis verwurzelt, infolge des Klimawandes ihren Halt verlieren. Trotz seines hohen Alters treibt Erich dieses Geschehen um. Regelmäßig erhält er für seine Untersuchungen Daten aus Russland telefonisch übermittelt.  Dieser Hintergrund verleiht diesem Erstling eine besondere Spannung. Hinzu kommt die Lebensgeschichte Erichs, die in Rückblicken erzählt wird und mit den dramatischen Erlebnissen von Wolodja verwoben ist, der einst in einem Gulag inhaftiert war. Schon allein dieses Thema und die spezielle Verbindung zwischen Erich und Wolodja, dem Bürger der DDR und dem Russen, hätte durchaus die Grundlage für einen wunderbaren Roman bilden können. Auch die Beziehung zwischen dem alten Mann und dem Mädchen mag interessant zu lesen sein. Doch deren etwas fragwürdiges Verhältnis zu dem Dealer erscheint indes wie ein Anekdote aus einem fremden Roman.  Sie mag nicht so recht zu der eher stillen und nachdenklichen Stimmung passen und wirkt künstlich im Gegensatz zu der kraftvollen Lebensgeschichte Erichs.

„Erich erzählte von früher, als gäbe es dieses Früher an einem fernen Ort noch immer. So als wäre nur er gegangen und alles andere seitdem unverändert. Dass er täglich in den Träumen, die seinen Mittagsschlaf begleiteten, dorthin zurückreiste, sorgte dafür, dass die Bilder noch immer voller Farbe waren.“

Die Stärke des Romans, dessen janusköpfiges Ende der Leser mit einem weinenden Auge und teils mit einem leisen Gefühl der Hoffnung erleben wird, liegt gerade in seinen stillen Szenen und in der Tragik, die sich in den Lebensgeschichten der Protagonisten widerspiegelt. Ada  Dorian, die Literaturwissenschaften und Philosophie studiert hat und heute in Osnabrück lebt, entwirft in ihrem Debüt, das sie im vergangenen Jahr zum Bachmann-Literaturpreis in Klagenfurt vorgestellt hat, eindrucksvolle und berührende Bilder und mit Erich einen Protagonisten geschaffen, der in Kopf und Herz bleibt. Er ist es, der mit einer falschen Entscheidung eine Schuld auf sich genommen hat und Tribut zahlen muss, jedoch auch als eine Symbolfigur dafür steht, wie ältere Menschen in der Gesellschaft wenig Respekt sowie mangelndes Verständnis für ihre körperliche Gebrechen erfahren und geradezu fremdbestimmt leben müssen.  

Der Erstling der 1981 geborenen Autorin zählt zum neuen Programm „Ullstein Fünf“ der Ullstein Buchverlage. Fortan soll in diesem Imprint der Fokus auf junge deutschsprachige Autoren und ihre Werke gelegt werden. Zu den bereits erschienenen Werke zählen „Sonne und Beton“ von Felix Lobrecht, „Das Rauschen in unseren Köpfen“ von Svenja Gräfen sowie „Fuchsteufelsstill“ von Niah Finnik. In Kürze soll mit „Schlick“ der zweite Roman von Ada Dorian veröffentlicht werden. Auch diesmal spielen Lebensgeschichten eine wichtige Rolle. Ich bin sehr gespannt darauf.

„Betrunkene Bäume“ ist bereits besprochen worden von den Blogs „Masuko13“, „Muromez“, „Lustauflesen“und „Bücherkaffee“


Ada Dorian: „Betrunkene Bäume“, erschienen im Ullstein Verlag; 272 Seiten, 18 Euro

Foto: pixabay

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