Jan Costin Wagner – „Sommer bei Nacht“

„Wie lange braucht der böse Mann, um das Böse zu tun.“

Es sind oftmals nur wenige Momente, um ein Leben und das weiterer Menschen von Grund auf zu verändern. Es sind nur wenige Sekunden, als der kleine Jannis während eines Flohmarktes einer Wiesbadener Grundschule verschwindet. Sekunden, in denen Mutter und Schwester nicht auf das Kind achten. Die Polizei nimmt die Ermittlungen auf. Doch Christian Sandner und Ben Neven müssen schnell erkennen, dass die Suche nach dem Jungen mehr als schwierig ist. Jan Costin Wagners neuer Roman ist ein bedrückendes dunkles Meisterwerk über tragische Verluste.

Kleine Dinge mit Gewicht

Den ersten Hinweis für die Ermittler gibt eine Videoaufnahme. Darauf ist Jannis mit einem Mann zu sehen, der einen großen Teddybär trägt. Das Lockmittel, das aus dem Jungen ein Opfer, aus dem Mann einen Täter macht, der das Urvertrauen der Familie, es wird doch nichts passieren, ausnutzt. Doch dann verliert sich die Spur. Bis ein ähnlicher Fall die Ermittler nach Innsbruck führt, wo vor wenigen Jahren Dawit, der Sohn einer eritreischen Familie, verschwand und die Polizei wenig Einsatz und Interesse zeigte, um das Kind zu finden – was schreckliche Folgen hatte. Ganz allgemein zeigt Wagners Roman, dass es oft die scheinbar kleinen unbedeutenden Dinge sind, die bei der Polizeiarbeit Gewicht haben. Es ist die Aussage einer Nachbarin des Täters und eine bereits ältere Zeichnung eines Kindes, die Sandner und Neven nach einer Weile auf die richtige Spur führen.

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Nein, nein, ich verrate an dieser Stelle nicht zu viel. Schließlich weiß der Leser schon recht früh, wer Täter und wer des Täters Helfershelfer ist. Aus verschiedenen Perspektiven wird diese Geschichte erzählt – und eben auch aus der Sicht des Bösen, das die Ermittler in die Irre führen will und eine Maske der harmlosen Unschuld aufsetzt. Oder wie im Fall von Neven, der eine dunkle, für den Leser abschreckende Begierde auslebt, ohne dass seine Kollegen und seine Familie davon nur einen blassen Schimmer haben. Dabei steht hinter der Suche nach Jannis eine weitere inhaltliche Ebene: Es geht um das Thema Eltern-Kind-Beziehung – auch mit Blick auf die Polizisten. Da ist Neven, der Frau und Tochter hat, da ist dessen Mentor, der ehemalige Ermittler Landmann, der Neven unterstützt und dessen Tochter seit einer ganzen Weile nichts mehr von sich hören lässt. Der Grund wird später erzählt, ein Ereignis, das dem Leser den Boden unter den Füßen wegzieht. Aber auch Sandner hatte einen tragischen Verlust zu beklagen, der ihn noch Jahre danach nicht loslassen will und der sein Leben in wenigen Sekunden auf den Kopf gestellt hat. Und auch deshalb berührt dieses hochpsychologische Buch den Leser emotional sehr – über das Schicksal der Kinder hinaus.

„Keine Verknüpfung, keine Erkenntnis, die sich einstellt, keine Tür, die im überraschenden Moment eine Verbindung zwischen den Räumen eröffnet. Es gibt keine Verbindung, nur einen Schatten, der sich über einen Tivoli und einen Flohmarkt legt. Einige Sekunden lang, dann scheint wieder die Sonne.“

In Wagners neuem Roman, der außerhalb seiner bekannten wie beliebten Reihe um den finnischen Ermittler Kimmo Joentaa steht, schaut der Leser zwar in die Köpfe der Figuren, doch viele der Gedanken bleiben ungesagt beziehungsweise unkonkret. Lücken, die der Leser im Gedankenspiel füllen kann. Im Gegenzug entstehen deutliche und drastische Bilder sowie atmosphärische Szenerien durch viele kleinteilige Details. Jedem größeren Abschnitt ist ein eigenständiger kurzer Text vorangestellt, der für sich steht und mit dem Hauptgeschehen in Beziehung gesetzt werden kann. „Sommer bei Nacht“ – ein Verweis auf den Titel ist im Text zu finden – ist ein Buch der Zwischentöne und Stimmungen. Das Unverdorbene, Strahlende eines Kindes trifft auf das dunkle und berechnende Böse, das inmitten der Öffentlichkeit wirken kann.

An der Spitze der Krimibestenliste

Wagner, Jahrgang 1972, hat mit „Sommer bei Nacht“ den Sprung an die Spitze der Krimibestenliste im Monat März geschafft.  Er bringt einen ganz eigenen Ton in die deutsche Krimilandschaft ein und lässt ein tieferes Verhältnis zu den Protagonisten zu. Dass ich ihn erst jetzt entdeckt habe, beschämt mich als Krimi-Fan schon ein wenig. Nur wenige Autoren dieses Genres hierzulande schaffen über die Spannung hinaus zugleich inhaltliche wie stilistische Qualität zu liefern. Wagner gehört zweifellos dazu.

Eine weitere Besprechung gibt es auf dem Blog „Peter liest“.


Jan Costin Wagner: „Sommer bei Nacht“, erschienen im Verlag Galiani Berlin; 320 Seiten, 20 Euro

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7 Kommentare zu „Jan Costin Wagner – „Sommer bei Nacht“

  1. Eine schöne Besprechung, vor allem eine ausgesprochen ausgewogene Balance zwischen dem, was man sagt, und dem, was man, erst recht bei einem Krimi, ungesagt lässt. Ausnahmsweise fällt es mir aber schwer, deine bewertende Einschätzung zu teilen. Bei allen Stärken, die du erwähnst und die ich auch sehe, hat er mich trotzdem nicht so ganz überzeugt wie die Joentaa-Romane. Ich werde in Kürze darüber berichten.
    Liebe Grüße und bleib gesund!

    Gefällt 1 Person

    1. Vielen Dank für Deinen Kommentar, lieber Peter. Ich kann leider keinen Vergleich ziehen, Du bist da klar im Vorteil, weil Du die vorherigen Bände kennst. Ich werde da wohl einiges nachholen müssen. Auf jeden Fall lese ich Deinen Beitrag, eine Verlinkung folgt in Kürze. Viele Grüße und bleib auch Du gesund.

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