„Warum uns wieder da hineinziehen? Wir waren Kinder.“
Was will uns dieses Cover sagen? Mir erschien es etwas rätselhaft und mysteriös. Dieses Weiß unter den blauen Lettern des Titels, diese Augen. Doch wer das Debüt der russisch-amerikanischen Schriftstellerin Katyna Apekina bis zum Ende liest, wird den Sinn erkennen und erneut erschauern. Ihr großartiger, indes auch teils verstörender Roman erzählt von einer außergewöhnlichen Familie – die außergewöhnliche Beziehungen und Emotionen pflegen, die schließlich zu tragischen Ereignissen führen.
Spannungen reichen weit zurück
Schon zu Beginn geschieht eine Tragödie. Marianne, die Mutter von Mae und Edith, will sich das Leben nehmen. Ihr Suizid-Versuch scheitert, weil eine ihrer Töchter rechtzeitig zur Stelle ist – und ihr nicht nur sprichwörtlich den Hals aus der Schlinge zieht. Ihr Vater Dennis, ein berühmter Schriftsteller, den sie jedoch kaum kennen, nimmt sie bei sich auf. Aus dem ländlichen Kaff in Louisiana ziehen die Geschwister in die Metropole New York, während ihre psychisch labile Mutter in eine Psychiatrie aufgenommen und dort behandelt wird. Beide Schwestern reagieren ganz unterschiedlich auf diese einschneidende Veränderung. Die jüngere Mae, die früher von ihrer Mutter regelrecht vereinnahmt wurde, genießt die Zeit bei ihrem Vater in der riesigen Stadt, Edith, kurz Edie genannt, will indes wieder zurück. Spannungen entstehen, deren Wurzeln in die Vorgeschichte der Familie und damit in die einst leidenschaftliche, später völlig zerrüttete Beziehung zwischen Marianne und Dennis zurückreichen. Sie werden trotz oder vielleicht wegen des großen Altersunterschiedes ein Paar, denn er war bereits von ihr fasziniert, als sie noch ein Kind war. Beide schreiben, sie erfolglos Lyrik, er Prosa, mit der er sich einen Namen macht und sich zu einem gefeierten Bestseller-Autor entwickelt.
„Je tiefer das Wasser“ besteht aus einem Chor unterschiedlicher Stimmen, die aus verschiedenen Perspektiven sowohl auf das Geschehen als auch auf Personen und Ereignisse blicken. Die Handlung mit ihren zahlreichen Rückblicken umfasst mehrere Jahrzehnte, wobei der Fokus allerdings auf die Zeit gerichtet ist, in der Mae und Edie bei ihrem Vater sind, die Ältere der beiden sich schließlich mit der Hilfe des Nachbarn und späteren Liebhabers Charlie absetzt, um zu ihrer Mutter quer durch das halbe Land zu gelangen. Dahingegen entwickelt sich Maes Beziehung zu ihrem Vater zu einer nahezu wahnhaften – mit tragischem Ausgang, der Einfluss hat bis in die Zeit, als die beiden Schwestern erwachsen sind.
„physiker sagen, dass manche partikel nur existieren, wenn man sie beobachtet. ein elektron, das nicht von einem orbit zum nächsten hüpft wie ein floh oder das nicht von einem physiker angestupst wird, hört auf zu sein. ich glaube, genau das ist mit mir passiert, ich habe aufgehört zu sein.“
Durch diese Vielzahl an subjektiver Stimmen, die in verschiedene Genres und Textformen gegossen werden, setzt sich nicht nur die wechselvolle Geschichte der Familie zusammen – mit all ihren Tragödien, Abgründen und Emotionen. Sie sorgen beim Leser auch für eine Ungewissheit. Was ist real, was ist wirklich passiert? Im Verlauf des Geschehens wird der Leser manches Mal sein Wissen über besondere Ereignisse sowie seine Haltung gegenüber den Figuren verändern müssen. Das sorgt für Spannung und Überraschungen – über die sonstigen besonderen Ereignisse und tragischen Geschehnisse hinaus.
Der Kinderfresser – die Gestalt des Kronos
Apekinas Erstling, der in einem kleinen amerikanischen Verlag erschienen ist und sich sehr wohl verdient zu einem Publikumsliebling entwickelte, ist ein Buch über toxische Beziehungen und emotionale Abhängigkeiten, die von einer Generation zur nächsten weitergereicht werden. An einer Stelle wird die mythologische Gestalt des Kronos – so nennen Mae und Edie ihre Katze – ganz bewusst erwähnt. Der Vater von Zeus verschlang seine Kinder, die er mit seiner Schwester Rhea gezeugt hatte. Es sind Mae und Edie, die unter der gescheiterten und unglücklichen Beziehung ihrer Eltern, der Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit sowie dem Schicksal ihrer Mutter leiden. Ein Leid, das kaum mit den besonderen Erfahrungen, Kinder eines berühmten Künstlers zu sein, aufgewogen werden kann. Das Ende zeigt indes, dass aus dem Schmerz auch ein Neuanfang entstehen kann. Darin liegt etwas Tröstliches, das nach all der dunklen Melancholie dieses berührenden Romans das Innere dann doch ein wenig erhellen könnte.
Weitere Besprechungen auf „Kulturjournal Fräulein Julia“, „Buchhaltung“, „Buchrevier“ , „BooksterHRO“ , „letteratura“, „novellieren“ und „Poesierausch“.
Katya Apekina: „Je tiefer das Wasser“, erschienen im Suhrkamp Verlag, in der Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Brigitte Jakobeit; 396 Seiten, 24 Euro
Guten Morgen!
Das Cover irritiert mich tatsächlich auf den ersten Blick ziemlich, auch wenn ich mir fast sicher bin, dass es dazu geführt hätte, es mir im Laden näher anzuschauen. Dein Bericht hier hat mich nun vollends neugierig gemacht und ich denke, ich muss dieses Buch selbst lesen und die Familiengeschichte kennenlernen, die du hier beschreibst. Vielen Dank dafür!
Liebe Grüße!
Gabriela
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vielen Dank für Deinen Kommentar, liebe Gabriela. Ich habe zu Beginn auch über das Cover gerätselt, bis im Laufe des Romans, dann eher zum Schluss mir die Gestaltung klar wurde. Ich bin gespannt, wie Deine Meinung zum Roman ist. Viele Grüße
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Ich habe das als Leseexemplar, werde ich aufgrund deiner Rezension also gerne Mal an (oder auch aus-)lesen!
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vielen Dank für Deine Zeilen, liebe Elvira. Sag mir, ob es Dir gefallen oder nicht. Viele Grüße
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