„Die Träume sind gewissermaßen wirklicher als die Wirklichkeit, wenn sie zu einem zweiten Leben werden (…).“
Was können uns historische Romane über ihre Einblicke in eine vergangene Zeit hinaus heute noch erzählen? Sind es nicht gerade besondere Persönlichkeiten und der Vergleich von Geschichte und Gegenwart, die dieses Genre so besonders reizvoll machen? Bereits 1990 erschien der Roman „Die stumme Herzogin“ der italienischen Schriftstellerin Dacia Maraini über eine besondere Frau, die im 18. Jahrhundert gesellschaftliche Tabus bricht – trotz ihres Geschlechts und ihrer Behinderung. Ein meisterhaftes Werk, das dank einer Neuausgabe nun wiederentdeckt werden kann.
Aus adeligem Haus
Wer diesen Roman liest, hat prägnante Bilder im Kopf, vielleicht vermag die Vorstellungskraft auch den Geruchssinn anzuregen: Sizilien ist reich an Sinneseindrücken. Dank seiner Vegetation aus Oliven- und Zitronenhainen, der blühenden Jasminsträucher und des Mittelmeeres. Auf der Insel im Süden Italiens wird um 1700 Marianna als Spross der ehrwürdigen Adelsfamilie Ucria geboren. Sie lernt schreiben und lesen. Sie verständigt sich mit Hilfe von kleinen handbeschriebenen Zetteln. Hinter ihrer Behinderung verbirgt sich ein streng gehütetes Familiengeheimnis. Mit 13 Jahren wird sie an ihren weit älteren noch unverheirateten und kinderlosen Onkel vermählt. Ihr Zuhause wird das zur Villa um- und ausgebaute Häuschen ihres Großvaters in Bagheria nahe Palermo. Die Eltern sind froh über diese Fügung, allerdings ohne das Wohl des Kindes im Blick zu haben. Aus der lieblosen und auch von Gewalt geprägten Ehe gehen fünf Kinder hervor, Mariannas Lieblingssohn stirbt mit vier Jahren an den Pocken. Die Zeit zieht ins Land. Die Kinder werden erwachsen, gehen ihrer Wege. Nach dem Tod ihres Gatten Pietro liegt es nun an der Herzogin, sich um den Familiensitz und die Ländereien zu kümmern, was auf einigen Argwohn der Pächter und Bauern stößt.
In größeren Zeitsprüngen erzählt Maraini von den kleinen wie großen Ereignissen im Leben der stummen Herzogin. Nicht nur an der allmählichen Emanzipation Mariannas beschreibt die bekannte Autorin das damalige Frauenbild. Auch am Leben und Wirken der Schwestern und Töchter der Heldin wird das Verhältnis zwischen Mann und Frau sowie der gesellschaftliche Stand der Frau deutlich. Sie werden meist jung vergeben. Eine Heirat wird oft strategisch geschlossen, um Einfluss zu gewinnen und Nachkommen, vor allem männlichen Geschlechts, zu zeugen. Liebesbeziehungen sind nahezu ausgeschlossen. Wer keine Ehe eingeht, wird Nonne in einem Kloster, das sich einen weiblichen Neuzugang gut bezahlen lässt. Marianna befreit sich zunehmend von männlicher Vorherrschaft und Standesdünkel – trotz der Kritik ihres einzig verbliebenen Sohnes. Sie setzt sich für die Schwachen ein. Mit dem jungen Saro, dem Bruder Filas, die als verarmte Waise als Angestellte in den Haushalt der Ucrias aufgenommen wird, geht sie eine Affäre ein. Mit Senator Camalèo, der sie heiraten würde, führt sie tiefsinnige Gespräch über Philosophie und Literatur. Es sind die Bücher und die Malerei, die ihr Leben seit der Kindheit bereichern und ihr Denken beeinflussen.
„Was ist überhaupt an ihr, das nicht der Einflüsterung anderer Geister entspränge, den Denkweisen anderer, dem Willen, den Interessen anderer? Ein Auswendiglernen von Trugbildern, die wahr erscheinen, weil sie sich wie tolpatschige Eidechsen unter der Sonne der täglichen Erfahrung hin und her bewegen.“
Weil Marianna nicht mehr hören kann, sind ihre anderen Sinne umso schärfer, auch vermag sie, sich in die Gedanken ihrer Mitmenschen einzufühlen. Maraini gelingt es meisterhaft, die speziellen Fähigkeiten ihrer Heldin in ihrem Werk umzusetzen. Sie entwirft ein sehr sinnliches, bildhaftes und detailreiches Panorama von Familie, Zeit und Insel, das an ein eindrucksvolles Gemälde erinnert. Es war auch ein Bild, das die Autorin zu ihrem Roman inspiriert hat und eine ihrer Vorfahrinnen zeigt, wie Maike Albath in ihrem den Band bereichernden Nachwort zur Neuausgabe schreibt.
Eine der großen italienischen Autorinnen
Die italienische Schriftstellerin stammt selbst aus einem sizilianischen Adelsgeschlecht. 1936 in Fiesole geboren, zog ihre Familie zwei Jahre später wegen eines Stipendiums des Vaters, der als Anthropologe und Japanologe tätig war, nach Japan um. Während des Krieges wurden die Marainis aufgrund ihrer politischen Einstellung dort in mehreren Lagern interniert. 1946 kehrten sie nach Italien zurück und ließen sich auf Sizilien nieder. Dacia Maraini begann bereits in der Jugend zu schreiben und debütierte 1962 mit dem Roman „La vacanza“ („Tage im August“). Sie zählte zu den Mitbegründern der Zeitschrift „Tempo della letteratura“ und gehörte der Frauenbewegung an. Zu ihren engsten Vertrauten zählte ihr Kollege Alberto Moravia, mit dem sie auch zusammenlebte. Maraini erhielt verschiedene Literaturpreise ihres Landes und ist Jurorin beim Premio Strega, mit dem sie 1999 geehrt wurde. Ihr Roman „Die stumme Herzogin“, 1990 veröffentlicht, erschien vier Jahre später in einer deutschen Übertragung (Piper) und kann nun in einer Neuausgabe wiederentdeckt werden. Eine Möglichkeit, die man sich nicht nehmen lassen sollte. Denn solch ein intensiver wie vielschichtiger historischer Roman hat Seltenheitswert.
Dacia Maraini: „Die stumme Herzogin“, erschienen im Folio Verlag, in der Übersetzung aus dem Italienischen von Sabine Kienlechner und einem Nachwort von Maike Albath; 364 Seiten, 24 Euro
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