Colum McCann – „Apeirogon“

„Wir fliehen vor unserem Schmerz in unseren Schmerz.“

Apeirogon bezeichnet eine Figur mit einer zählbar unendlichen Menge an Seiten. Der Name geht auf das griechische Wort „apeiron“ zurück, das „das Unbegrenzte“, „das Unbestimmte“ bedeutet. Nach diesem Begriff aus der Geometrie ist der neue Roman des irischen Schriftstellers Colum McCann benannt. Von zahlreichen Seiten schaut er dabei auf den langjährigen und gewalttätigen Nahost-Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern. Im Mittelpunkt stehen dabei zwei reale Personen, die einen schmerzlichen Verlust erleben mussten und schließlich trotz ihrer unterschiedlichen Herkunft einen gemeinsamen Weg verfolgen.

Hoffnung auf Versöhnung und Frieden

Rami Elhanan ist Jude und lebt in Jerusalem. Er verlor seine 13-jährige Tochter Smadar 1997 bei einem Selbstmord-Attentat. Bassam Aramin ist Palästinenser und wohnt in Hebron. Seine Tochter Abir starb 2007 im Alter von zehn Jahren durch ein Gummimantel-Geschoss aus der Waffe eines israelischen Soldaten. Beide trauern, beide wollen jedoch keine Vergeltung. Als Mitglieder der Gruppen „Combatants of Peace“ sowie „Parents Circle“ fordern sie vielmehr Versöhnung und Frieden zwischen den verfeindeten Völkergruppen. Beide Männer wurden zu Freunden, obwohl auch sie in früheren Jahren gegenüber „den Anderen“ Vorurteile gehegt, Hass gespürt haben. So verbrachte Bassam sieben Jahre seines Lebens in einem Gefängnis, da er sich der Fatah-Bewegung angeschlossen hatte und einer Gruppe angehörte, die Angriffe auf israelische Militär-Stützpunkte plante.

Während der Haft lernte er Hebräisch und begann sich mit der Shoah auseinanderzusetzen, die er später weiter studierte. Rami ist der Sohn eines ungarischen Juden und Holocaust-Überlebenden, der sich für das Ende der israelischen Besatzung ausspricht, weil er tagtäglich Zeuge des Unrechts gegenüber den Palästinensern ist, die Demütigungen, Misshandlungen und Brutalität erleben. Beide Friedensaktivisten, die für ihre Vorträge über ihre Lebensgeschichte in viele Länder reisen, ernten indes nicht nur Zuspruch. Sie werden angefeindet, erhalten Drohungen. McCann berichtet von einem Land, in dem Straßensperren, Schutzwälle und elektronische Schießanlagen zum militarisierten Alltag der Menschen gehören.

In seinem Roman, der Fakten mit Fiktion vermischt, erzählt McCann indes nicht nur die Geschichten der beiden Männer. Der Ire bezeichnet in seiner Danksagung am Ende „Apeirogon“ als einen Hyprid-Roman. Darin gibt er die traditionelle lineare Erzählstruktur komplett auf. Sein Buch besteht aus zwei großen Teilen, die sich jeweils aus 500 verschiedenen Texten zusammensetzen, die unterschiedliche Themen aufgreifen, von verschiedene Personen berichten, die alle jedoch einen Bezug zum großen Thema haben. Alles ist miteinander verwoben. Die einzelnen Texte füllen mehrere Seiten oder erinnern an Miniaturen und bestehen nur aus wenigen Sätzen.

„Die Tür schloss sich mit einem dumpfen Zischen. Dann Stille. Schon damals wusste er, dass jedes nachfolgende Geräusch aus dieser Stille hervorgehen würde.“

McCann berichtet über den riesigen Vogelzug, der alljährlich über den Nahen Osten fliegt, schildert die Geschichte von verschiedenen Waffen, von der Steinschleuder und Schwarzpulver bis zu modernen Drohnen, erzählt von bekannten Persönlichkeiten wie den Komponisten John Cage, Albert Einstein und Sigmund Freud, Pablo Picasso sowie den irischen Theologie-Studenten und Hobby-Geografen Christopher Costigan, der 1885 ans Tote Meer gereist war; nach ihm wurde später ein Kap benannt. Erschütternd ist die Episode der Zaka-Helfer, die nach Unfällen oder einem Attentat die Körperteile der Opfer sammeln, damit diese nach ihrem Tod eine ehrenvolle Bestattung erhalten. Darüber hinaus enthält der Band Fotos sowie mehrere Zitate – von Borges über die Band „Talking Heads“ bis hin zu dem palästinensischen Dichter Mahmud Darwisch.

Recherche-Leistung, die imponiert

Mit seinem jüngsten Werk stand McCann, der für seinen Roman „Die große weite Welt“ 2009 bereits den National Book Award erhielt, auf der Longlist des Booker Prize 2020. „Apeirogon“ ist ein großes wundersames Kaleidoskop beziehungsweise Mosaik über Krieg und Frieden, über Trauer, Schmerz und Hoffnung. McCann hat Rami und Bassam kennengelernt, bereiste zudem Israel und das Westjordanland. Wer seinen Roman liest, wird Hochachtung empfinden angesichts dieser engagierten Recherche-Leistung, für die er Unterstützung zahlreicher Helfer erhielt. Und mehr noch: Dieses Buch lehrt einen so viel und berührt ungemein, ohne allerdings dabei eine Meinung oder eine Moral dem Leser überzustülpen. Die Botschaft des zugleich aufrüttelnden Romans liegt vielmehr in dem Schicksal beider Männer und ihrem Engagement für Frieden und Versöhnung.

Weitere Besprechungen auf den Blogs „LiteraturReich“ und „Missmerized“.


Colum McCann: „Apeirogon“, erschienen im Rowohlt Verlag, aus dem Englischen von Volker Oldenburg; 608 Seiten, 25 Euro
Foto von Cole Keister auf Unsplash

7 Kommentare zu „Colum McCann – „Apeirogon“

    1. Vielen Dank, liebe Elvira. Ich glaube, Du hattest es auch empfohlen und ich hatte es bei dir bestellt. Dann sah ich eine Sendung vom SRF-Literaturclub und dann musste ich es einfach lesen. Liebe Grüße

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  1. Ja, ich glaube die erste Episode mit den Zaka-Helfern war es, die mich vom weiteren lesen abgehalten hat. Manchmal sind es seltsame Auslöser …
    Deine Bücher stapeln sich aber auch inzwischen schon enorm vorm Regal.
    Liebe Grüße!

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    1. Die Szene mit den Zaka-Helfern ist wirklich nicht einfach zu verarbeiten. Aber auch die Beschreibungen der Verletzungen der Mädchen ist erschütternd. Ja, meine Bücher stapeln sich schon vor dem Regal. Es wird Zeit, da mal aktiv zu werden. Aussortieren oder neue Regale…. Liebe Grüße

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  2. Liebe Frau Matthes,

    mit großem Interesse habe ich auch Ihre Besprechung des neuesten Romans von Colum McCann gelesen, den ich selbst bereits kurz nach seinem Erscheinen gelesen habe und von dem ich sehr beeindruckt war.

    Sie werden es mir sicher nicht verübeln, wenn ich Sie auf eine Kleinigkeit aufmerksam mache, die Sie leicht werden korrigieren können: Der zweite Absatz unter der Abbildung des Buches beginnt mit den Worten: „In seinem Roman, der Faken [!] mit Fiktion vermischt…“ Eigentlich nicht so wichtig, aber da die „Faken“ allzu nah an den „Fakes“ sind, ist es in diesem Fall vielleicht doch auch nicht unwichtig.

    Viele Grüße – Heinz Gierlich

    Dr. Heinz Gierlich Georg-Sandmann-Str. 9 50321 Brühl Tel.: 02232-7699900

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