Rob Cowen – „Aller Land“

„Jemand muss der Natur wieder ihren Lauf lassen. Das ist unsere einzige Hoffnung.“

Es ist nur auf den ersten Blick ein Niemandsland. Wer genauer hinschaut, kann sie erkennen: All die Tiere und Pflanzen, die hier zu Hause sind. Aller Land nennt der englische Journalist und Autor Rob Cowen den Landstrich, der sich an den Stadtrand anschließt und wo der Mensch der Natur sehr nahe kommen kann. Sein Band „Aller Land“ ist eine einzigartige Hommage an diesen Flecken Erde und ein Plädoyer für einen achtsamen Umgang mit der Natur.

Von Vielfalt und Veränderung

Cowen verlässt die Metropole London. Ihn zieht es nach dem Jahreswechsel wieder nach Bilton in Yorkshire, wo er aufgewachsen ist. Er beginnt, mit einem Notizbuch als Begleiter, durch die Gegend zu streifen, vor allem das kaum beachtete Areal am Stadtrand zieht ihn magisch an. Hier gibt es eine alte Bahntrasse, die Kläranlage, einen Hohlweg, den Fluss Nidd und ein altes Viadukt. Und mittendrin ganz viel Leben, das Cowen nach und nach entdeckt. Fast täglich geht er auf Erkundungstour, inklusiver Ruhepausen, in denen er einfach die Natur beobachtet, die Stimmung um und in sich nachspürt. Mit der Zeit nimmt er nicht nur die erstaunliche Vielfalt von Flora und Fauna wahr, sondern auch die kleinen wie größeren Veränderungen.

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Jetzt könnte man vielleicht meinen, was hat er uns denn auf mehr als 300 Seiten da zu erzählen. Aber die Magie des Nature Writing besteht ja auch darin, das Besondere im Alltäglichen zu finden und zu beschreiben. Und der Engländer ist ein Meister darin. Jedes der insgesamt neun Kapiteln seines Buches, von einem Vorwort und einem Epilog eingerahmt, widmet er einem einheimischen Tier oder einer Pflanze: wie Fuchs, Feldhase, Dachs, Waldkauz, Mauersegler und Brennnessel. Es entstehen Geschichten, die sich nicht nur voll und ganz der Natur zuwenden und die Eigenschaften der Tiere und Pflanzen sowie deren Einfluss auf unsere Kultur schildern. Sie geben auch Einblicke in den Alltag des Autors und erzählen von der Historie verschiedener Orte oder von den Schicksalen besonderer Menschen.

Wir lernen unter anderem die wechselvolle Geschichte von Bilton Hall kennen, einst Adelssitz, nun ein Altersheim, oder die Wende im Leben des John Joseph Longthorne, der, einst ein erfolgreicher Chef einer Werbeagentur mit einem nicht unwesentlichen Drogenproblem, zum Landstreicher und Umweltschützer wird. Und wir erfahren die tragische Geschichte eines Soldaten kennen, der im Krieg seinen Freund verloren hat und auf Heimaturlaub ist.

„Dieser kleine Platz am Waldrand, von wo aus ich sehen kann, wie die letzten Sonnenstrahlen des Tages das Feld hinabrutschen und in den Brennnesseln verweilen. Die dünne Stelle im Gewebe, der Rain, an dem noch eine andere Grenze verläuft. An dem Tag und Nacht aufeinandertreffen. Schon nach wenigen Minuten spüre ich dieselbe Verbundenheit wie letztes Mal, die Präsenz von etwas anderem, Erinnerungen, die auf einmal auftauchen.“

Eingebettet sind die Kapitel in mehrere Zeitrahmen: den Wechsel von Tag und Nacht und den der Jahreszeiten sowie die Schwangerschaft von Cowens Frau Rosie. Das Kapitel, in dem das Paar Eltern des kleinen Thomas werden, zählt wohl zu den ergreifendsten des ganzen Buches. Immer wieder hebt der Autor das Thema Leben und Tod, den Kreislauf der Natur heraus. Immer wieder sind es eindrückliche Begegnungen, die er beschreibt. Sein Blick für die Umgebung wird mit der Zeit genauer und achtsamer, wie er mehrfach betont. Und er nimmt sich auch die Zeit. Das In-sich-ruhen und Ausharren werden zu einer Leidenschaft. Alles andere wird nahezu ausgeblendet. Die ausgiebigen Wanderungen lassen ihn seine Sorgen vergessen.

Auch Kritische Töne

Cowen, der als Natur- und Reisekolumnist für große Medien wie BBC, Independent und die New York Times Beiträge verfasst und für sein 2012 erschienenes Debüt „Skimming Stones and Other Ways of Being in the Wild“ den Roger-Deakin-Award erhielt, hat eine besonders intensive Beziehung zu Landschaften und zur Natur entwickeln können. Seine Sprache offenbart nicht nur die Liebe zum Detail, sondern auch die Leidenschaft für die Poesie. Er findet den richtigen Ton für Amüsantes genauso wie für Trauriges und Tragisches oder für die lebendige Szenerie vor seinen Augen. Kritisch wird er, wenn er beispielsweise über die Zerstörung der Naturschätze oder Ungerechtigkeit wie im Fall des sogenannten Enclosure Movement und dessen verheerenden Folgen schreibt. Dabei wurde vorher gemeinschaftlich genutztes Land von privater Seite eingefriedet und intensiver genutzt, was den Einfluss der Landbesitzer stärkte, aber die schlechten Lebensbedingungen der Kleinbauern verschärfte. Auch die Dachsjagd, um in Großbritannien vermeintlich die Rindertuberkulose einzudämmen, greift er scharf an.

„Aller Land“ ist nicht nur ein berührendes, erstaunliches und sehr persönliches Meisterwerk innerhalb des Nature Writing, das als Genre seit Jahren eine erfreuliche Renaissance erlebt und glücklicherweise wieder mehr Beachtung erfährt. Cowens Band, bereits 2015 unter dem Originaltitel „Common Ground“ erschienen und vielfach gelobt, ist auch ein überaus kluges wie verständliches Plädoyer für Achtsamkeit und den achtsamen Umgang mit der Natur und all ihren kleinen wie großen Wundern, wobei er allerdings nicht nur für den alleinigen Schutz der Umwelt appelliert. Er erkennt auch am Beispiel eines neuen Radwegs auf der einstigen Bahntrasse, dass es kleine Veränderungen des Lebensraumes bedarf, um die Menschen wieder näher an die Natur zu führen, damit sie deren Wert erkennen und wieder mehr achten. Ein Werk, das nicht nur eindrucksvoll von Christine Ammann ins Deutsche übertragen wurde, sondern auch mit seiner wunderbaren Gestaltung eine besondere Freude bereitet.


Rob Cowen: „Aller Land“, erschienen im Verlag Matthes & Seitz Berlin, aus dem Englischen von Christine Ammann; 303 Seiten, 26 Euro

Foto von Luke Seago auf Unsplash

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