Bernardo Zannoni – „Mein erstaunlicher Hang zu Fehltritten“

„Ich fühlte mich nicht mehr als Tier, ich hatte meinen Instinkt gegen Zweifel und Fragen eingetauscht.“ 

Martes foina, Raubtier und Fleischfresser, Kletterkünstler und schlanker Leichtfuß. Wer wenn nicht der Steinmarder hätte es endlich verdient, großer Held eines Romans zu werden. Und was für ein Roman. Denn der italienische Jungautor Bernardo Zannoni räumte mit seinem Debüt „Mein erstaunlicher Hang zu Fehltritten“ (Original: ‎“I miei stupidi intenti“) gleich mehrere Literaturpreise seines Heimatlandes ab. Sein meisterhafter Roman erzählt dabei nicht nur vom Leben eines Steinmarders von dessen Geburt bis zum Tod. Er beschreibt darin zudem die Entwicklung des Menschen.  

schlechter Start ins Steinmarder-Leben 

Archys Start ins Leben ist alles andere als leicht. Seine Mutter bringt ihn und seine fünf Geschwister in einer kalten Winternacht auf die Welt, nachdem sein Vater Davis, ein unnachgiebiger Räuber, von den Menschen erschossen worden ist. Ein Kleines stirbt wenige Tage nach der Geburt. Zurückbleiben fünf „Niemandskinder“, die von Mutter Annette mehr schlecht als recht mit Nahrung versorgt werden. Das stärkste Jungtier, Leroy, hilft der Mutter bei der Jagd. Auch Archy will seine Familie unterstützen. Doch als er auf der Suche nach Futter von einem Baum stürzt und sich verletzt, ist er für nichts mehr zu gebrauchen. Der Hinkefuß, der die Familie belastet, muss weg. Annette verschachert ihren Sohn, der sich unendlich in seine Schwester Louise verliebt hat, an Fëdor, einen alten Fuchs.

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Archy wird sein Gehilfe. Er muss ihn wie der Hund Gioele zu Diensten sein, im Geheimen sehnt er sich nach seiner Familie, die schließlich auseinandergerissen wird. Doch nach und nach entwickelt der bei vielen Tieren gefürchtete Rotpelz und Pfandleiher Vertrauen in den jungen Steinmarder. Er wird sein Mentor, der ihn mit der Zeit über die Welt, über Leben und Tod, vor allem aber über Gott aufklärt. Er bringt ihm Lesen und Schreiben bei und soll schließlich dessen Lebensgeschichte niederschreiben, die zugleich zu einer gottesfürchtigen Abbitte wird. Archy wächst weiter heran. Er verliebt sich in ein junges Steinmarder-Weibchen. Als der alte Fuchs stirbt, übernimmt Archy „Haus und Hof“. Nichtsahnend, dass sein Leben noch einige Herausforderungen und Schicksalsschläge bereit halten wird und er in der Welt nicht nur Freunde hat.     

„Vielleicht bin auch ich in Wirklichkeit ein Mensch, wie er geschrieben hat, und werde gerettet. Vielleicht hat Gott mich zum Tier gemacht, um mich auf die Probe zu stellen.“ 

Tiergeschichten nehmen in der Geschichte der Literatur bekanntlich eine Sonderstellung ein. Sie sind beliebt, manche sogar legendär. Man denke an die Fabeln Äsops und Lessings, die Weisheiten vermitteln und den tierischen Helden mit menschlichen Eigenschaften ausstatten. Man denke an jüngere Klassiker wie „Die Farm der Tiere“ von George Orwell aus dem Jahr 1945, in dem die Tiere gegen den Menschen rebellieren, an „Watership Down – Unten am Fluss“ von Richard Adams aus dem Jahr 1972 oder das bereits 1908 erschienene Kinderbuch „Der Wind in den Weiden“ aus der Feder von Kenneth Grahame. Und nicht zu vergessen: „Pu, der Bär“, den liebenswerten Helden von Alan Alexander Milne, 1926 veröffentlicht. Die Liste ließe sich wohl ohne Mühen um einiges verlängern.  

Tierischer Instinkt trifft auf menschliche Gefühle 

1995 in Sarzana geboren, hat Zannoni mit „Mein erstaunlicher Hang zu Fehltritten“ seinen ersten Roman geschrieben, der sich zu einem Überraschungserfolg mauserte. Er wurde nicht nur in Italien ein Erfolg, sondern auch in zehn Länder verkauft. Für sein Debüt wurde Zannoni mit dem Premio Salerno Letteratura, dem Premio Severino Cesari und dem Premio Campiello ausgezeichnet. Darin erschafft er eine Art archaische Zwischenwelt. Die Helden tragen nicht nur tierische Eigenschaften; in mehreren Szenen werden die grausamen Folgen von Überlebens- und Machtkämpfen deutlich gezeigt. Zu jenem Instinkt treten indes auch menschliche Gefühle: Archy trauert seinem Mentor und seiner großen Liebe hinterher. Mehrere Protagonisten zeigen ihr Mitgefühl mit anderen Wesen. Und die Tiere haben sich auf menschliche Art eingerichtet – unter anderem mit Bett und Lampen. Wenn es ihnen schlecht geht, konsultieren sie einen Arzt.

„Ich will einen Grund haben, um zu sterben. Ich weine, weil ich wünschte, ich hätte die Wahrheit über die Welt nie herausgefunden.“  

Der Leser trifft neben der Steinmarder-Familie auf eine ganze Reihe anderer Tiere: ein Luchs wird zum erbitterten Feind, Klaus das Stachelschwein indes zum Freund. Der alte Fuchs hält Hühner. Auch Schweine kommen in dem Buch vor. Nahezu fantastisch: Alle Tiere verstehen die Sprache des anderen. Nicht nur erzählt Zannoni mit Archy, der zugleich die Rolle des Ich-Erzählers übernimmt, ein Leben von der Geburt bis zum Tod. Das Werden des Helden erinnert an die Entwicklung des Menschen: Archy lernt das Lesen und Schreiben, auf dem Hof des Fuchses werden Tiere gehalten und Gemüse angebaut, die Tiere sind sesshaft geworden. Und der zwar körperlich eingeschränkte, allerdings kluge pelzige Held nimmt sich selbst als denkendes Wesen wahr, das schließlich an Gott glaubt, Dinge des Lebens hinterfragt. 

Zannoni ist ein kluger wie berührender Roman gelungen, der ergreift, zum Nachdenken anregt, der die Endlichkeit des Lebens und die Bedeutung von Familie und Freundschaft genauso verhandelt wie Fragen von Schuld und Sühne. Man kann also wirklich gespannt sein, was auf diesen großen Wurf folgen wird.    


Bernardo Zannoni: „Mein erstaunlicher Hang zu Fehltritten“, erschienen im Rowohlt Verlag in der Übersetzung aus dem Italienischen von Julika Brandestini; 256 Seiten, 24 Euro 

Bild von Susanne Jutzeler, Schweiz 🇨🇭 suju-foto auf Pixabay

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