Jan-Erik Fjell – „Nachtjagd“

Eine junge Frau wird mit unzähligen Verletzungen tot an einem See nahe einem Sägewerk aufgefunden. Ermittler Anton Brekke und seine Kollegen haben einen schlimmen Verdacht. Er ist wieder zurück: Stig Hellum, der gefürchtete Serienmörder, der kürzlich aus der Haftanstalt Ila fliehen konnte. Er war einige Jahre zuvor schuldig gesprochen worden, drei Frauen getötet zu haben. Dann wird eine zweite tote Frau, ebenfalls grausam zugerichtet, gefunden. Die Polizei stochert im Nebel, kommt bei ihrer Suche nach Hellum nicht weiter. Bis eine weitere Leiche gefunden wird, die allerdings die Arbeit der Ermittler komplett auf den Kopf stellt. Mit „Nachtjagd“ erleben deutsche Leser den sechsten Fall der Brekke-Reihe des norwegischen Krimi-Autors Jan-Erik Fjell.

Ein Ermittler, an den Frau sich gewöhnen muss

Gleich einmal vorweg: Die Teile können unabhängig voneinander gelesen werden; die 2012 und 2013 ersten beiden, auf Deutsch erschienenen Bände der Reihe, „Der stumme Bruder“ und „Kälteeinbruch“, sind nicht mehr erhältlich. Nur eines sollte für die Leserinnen und Leser womöglich wichtig sein: sich an einen etwas sehr kernigen Ermittler zu gewöhnen. Einige der machohaften Sprüche vor allem zu Beginn des Romans können für Frauen schon gruselig sein. Dass Brekke nun an Schmerzen an für einen Mann wichtigen Körperteilen leidet, könnte frau schon etwas als kleine Gerechtigkeit empfinden.

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Doch Fjells Roman sollte auf keinen Fall aus diesem Grund aus den Händen gelegt werden, denn „Nachtjagd“ ist ein Thriller, der mit einem sehr klugen Aufbau und einer daraus entstandenen großartigen Spannung punktet. Nicht nur Norwegen ist Handlungsort. Fjell führt die Leser zudem in die USA, wo der einstige Agent Nathan Sudlow in einer Todeszelle im Gefängnis in Huntsvolle/Texas auf seine Hinrichtung mit der Giftspritze wartet. Allerdings einige Jahre bevor Hellum sein furchtbares Unwesen treibt. Beide Handlungsstränge wechseln sich ab, bis dem Leser klar wird, was das verbindende Element der Ereignisse ist: Agent Sudlow reist nach Norwegen, um einen Auftrag zu erfüllen. Um nach Nordnorwegen, genauer nach Kirkenes nahe der russischen Grenze zu gelangen, nimmt er die Hurtigruten, die berühmte norwegische Postschiff-Linie, und geht an Bord der MS Nordlys, an der Tage später eine junge Frau, zugleich Teil der Besatzung, ums Leben kommt.

„Es war halb neun. Im Wald war es friedlich. Anton dachte plötzlich, dass es immer der Tod war, der ihn hinaus in die Natur lockte. Der Tod anderer.“

Es dauert eine Weile, bis Brekke und sein neuer Kollege Magnus Torp, der von seinem neuen Partner einst auch ausgebildet wurde, auf der richtigen Spur sind. Zwischendurch haben sie mehrere Verdächtige im Blick: so auch den Autor Hans Gulland, der genau zum Zeitpunkt der Morde ein Buch über den Serienmörder Hellum veröffentlicht. Eine weitere Überraschung kommt erst zum Schluss: Denn den Mörder der beiden jungen Frauen werden wohl die wenigsten Leser im Visier gehabt haben. Nur soviel: Es geht um Rache.

„Alle Nationen haben ihre Schattenkrieger, Pater. Männer, von denen man nie etwas hört. Männer, die sich permanent an der Front befinden. Und öfter, als man vermuten sollte, verläuft die Front durch unseren eigenen Hinterhof.“

Mehrere interessante Themen verarbeitet der Norweger in seinem Roman: die Geschichte des Agenten Richard Sorge genauso wie die Skala der Bösartigkeit, die der amerikanische Psychiater und Forensiker Michael H. Stone entwickelt hatte. Auch die Hurtigruten begleitet das Geschehen. Ein tiefgründiges Thema, das sich quer durch die komplette Handlung zieht, fehlt indes, wenngleich die Story des Agenten und Todeskandidaten Sudlow wohl spannender ist als der persönliche Hintergrund des Ermittlers, der nicht ganz jenes Charisma entwickelt wie die Lichtgestalten skandinavischer Krimis.

Erfolgreicher Autor mit Handicap

Fjell, 1982 geboren, schreibt seit Jahren erfolgreich Kriminalromane. 2010 erhielt er als jüngster Gewinner den Preis des norwegischen Buchhandels, 2019 war er für seinen Krimi „Nachtjagd“ („Gjemsel“) für den renommierten Riverton-Preis nominiert. Seine Bücher verkauften sich in seinem Heimatland sowie im Ausland bisher rund eine Million Mal. Das Schreiben führt er auf sein Handicap zurück: Denn Fjell, der auch für das Radio arbeitet, sitzt im Rollstuhl. In der Schule fühlte er sich nicht wohl, ein Lehramtsstudium brach er ab. 2009 debütierte er mit dem Roman „Pus“. Bereits ein Jahr später erschien sein erster Kriminalroman: „Tysteren“. Vor wenigen Tagen ging sein neuester Roman mit dem Titel „Nattravnen“ in Norwegen an den Start – der zehnte Teil der Brekke-Reihe.

Doch auch deutsche Fans können sich freuen: Im November erscheint mit „Dunkelhaus“ („Gråsonen“) der siebente Teil der Brekke-Reihe, bereits 2020 in Norwegen erschienen. Und trotz aller Startschwierigkeiten mit dem Helden, die Vorfreude auf den kommenden Band ist bei mir ganz klar da.


Jan-Erik Fjell: „Nachtjagd“, erschienen im Goldmann Verlag, in der Übersetzung aus dem Norwegischen von Andreas Brunstermann; 512 Seiten, 16 Euro

Foto von Vidar Nordli-Mathisen auf Unsplash

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