Xi Xi – „Meine Stadt“

„Tag für Tag verabschiedet sich etwas in dieser Stadt still und leise von uns, verblasst allmählich, und verschwindet dann ganz.“

Hongkong: multikulturelle mehrsprachige Metropole, vom Wasser umgeben. Einst britische Kronkolonie, heute Sonderverwaltungszone der Volksrepublik China. Teuer, aber sicher. Mehr als sieben Millionen Menschen leben hier, auf einer Halbinsel und auf mehr als 260 Eilande verteilt. Zugegeben: Ich war noch nie dort. Selbst literarisch recht selten. Nun allerdings ergibt sich die Möglichkeit dafür, wenigstens mit einem Buch nach Fernost zu reisen. Denn erstmals ist der Kultroman „Meine Stadt“ der hongkong-chinesischen Autorin Xi Xi (1937-2022) in deutscher Übersetzung erschienen.

Unter Pseudonym erschienen

Dabei fällt der Name der Stadt kein einziges Mal, wie aufmerksame Leser bemerken werden und Übersetzerin Karin Betz in ihrem sehr erhellenden Nachwort schreibt, in dem sie auf die Besonderheiten Hongkongs und die Verbindungen zwischen Stadt und Autorin eingeht, die als Kind nach Hongkong kam, um mehr als 20 Jahre später dieser Stadt in ihrem Roman ein literarisches Denkmal zu setzen, der in der Literaturbeilage des „Hong Kong Express“ als Serie ab 1975 erschien – unter dem Pseudonym: Aguo. Eben unter jenem Namen, den auch der junge Held und Ich-Erzähler des Romans trägt.

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Wir treffen auf ihn, als er mit seiner Mutter Siusiu und seiner Schwester Afa in das alte Haus der Tanten in der Schaukelpferdstraße einzieht. Er steht an einem Wendepunkt: Die Schule hat er beendet, der Ernst des beruflichen Lebens beginnt. Aguo entscheidet sich, in der städtischen Telefongesellschaft eine Ausbildung zum Techniker zu absolvieren. Dort trifft er auf Mike Munter, der früher Parkwächter war, Chilis an die Wände seiner Wohnung hängt und zu den teils auch seltsamen Protagonisten des Romans zählen, die oft von einem besonderen Leben berichten können. Da ist Tischler Abei, der seine Frau im Krieg verloren hat, sich nun um die 17 Türen des Hauses kümmert. Oder auch Ayon, der auf einem Schiff anheuert und Aguo Postkarten schreibt, um von seiner Reise über die Meere und Ozeane zu erzählen.

Magisch realistisch

„Meine Stadt“ ist ein Roman, der mit den Leseerfahrungen und -erwartungen bricht. Einen roten Faden gibt es nicht, höchstens die wiederkehrende Stimme Aguos und die skizzenhaften Zeichnungen, die den Text begleiten, sind Konstanten dieses Buches. Alltagsszenen vermitteln Einblicke in das städtische Leben und beschreiben den Charakter und die Probleme der Metropole, die aus allen Nähten platzt, weil neben den Touristen tagtäglich unzählige Flüchtlinge die Stadt per Flugzeug, per Boot  oder zu Fuß erreichen, in der zudem Lärm und Platzmangel herrschen.

„Frische Bücher sind wie frisches Brot: Platziert man sie günstig in einem Schaufenster, ziehen ihre Gesichter viele Augenpaare an.“

Xi Xi, alias Zhang Yan, wurde 1937 in Shanghai geboren. Sie flüchtete 1950 an der Seite ihrer Eltern nach Hongkong, nachdem die Kommunisten den Bürgerkrieg in China gewonnen hatten. Nach Schule und Ausbildung arbeitete sie zunächst als Lehrerin, parallel begann sie mit dem Schreiben. Mit der preisgekrönten Kurzgeschichte „A Woman Like Me“ gelang ihr Anfang der 80er-Jahre der literarische Durchbruch. Zuvor war sie zudem als Drehbuchautorin, Filmemacherin und Filmkritikerin tätig. Nach einer Operation infolge einer Brustkrebserkrankung ertaubte ihre rechte Hand, daraufhin ging sie einer besonderen Leidenschaft nach: der Herstellung von Teddybären. Xi Xi wurde mehrfach ausgezeichnet, ihre Werke fanden nicht nur Eingang in den Schullehrplan und nahmen Einfluss auf jüngere Autoren, einige ihrer Texte wurden während des Protestes gegen die chinesische Verwaltung von Demonstranten genutzt.

„Es gibt so viele Kriege auf der Welt, man sollte die Feuerwehr auf die Schlachtfelder schicken, um alle Feuer zu löschen.“

Xi Xis Buch erinnert an ein buntes, mehrschichtiges Kaleidoskop oder eine Collage, bei der ungeachtet der Fiktion eines Gesellschaftsromans die übliche Nähe zur Realität nicht existiert. Immer wieder finden sich Passagen, die an den magischen Realismus erinnern: Wenn beispielsweise Dinge als beseelt erscheinen oder kuriose Ereignisse mit viel Humor beschrieben werden: So werden die verschiedensten Dinge in Folie verpackt – von der Parkbank bis zum Hochhaus, werden Blitze eingesammelt, um daraus Energie zu gewinnen. Aguo ist fantasievoll und verfügt über eine besondere Beobachtungsgabe, er liebt die Beatles und die Streifzüge durch seine Stadt.

Füllt weissen Fleck

Trotzdem finden sich immer wieder auch kritische Töne darin. Wenn beispielsweise die Nachrichten vermelden, dass der Ölvorrat erschöpft ist, auch Krieg und Rassismus, Hunger und Flucht werden erwähnt. Diese gesellschaftskritischen Verweise auf die damalige Zeit, in der Hongkong noch britische Kronkolonie war, und die zahlreichen Anspielungen auf Politik, Gesellschaft und Kultur machen die Lektüre nicht leicht, aber mehr als lohnend.

„Meine Stadt“ fordert heraus, unterhält allerdings auch, ist ein aus der Masse herausstechendes Buch, das wohl ein mehrmaliges Lesen verlangt, das Staunen lässt und im Regal einen besonderen Platz erhalten sollte, weil es einen weißen literarischen Fleck auf unnachahmliche Art und Weise mit Farbe füllt.

Eine weitere Besprechung gibt es auf „Intellectures“.


Xi Xi: „Meine Stadt“, erschienen im Suhrkamp Verlag, in der Übersetzung aus dem kantonesischen Chinesisch von Karin Betz, 253 Seiten, 24 Euro

Foto von Kin Shing Lai auf Unsplash

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