Tess Gunty – „Der Kaninchenstall“

„Manchmal geht es zu wie im Irrenhaus, oder? Ich meine, so viele Leben, die gerettet werden müssen.“

Dünne Wände, hellhörig, beengt, geruchsintensiv. Meine Erinnerungen an einen Kaninchenstall sind noch recht lebendig. Mein Vater hielt die flauschigen Vierbeiner, wir lebten auf dem Land. Wenn ich als Kind nicht folgte, hieß es: „Du kommst gleich in den Kaninchenstall!“. Es ist niemals passiert, ich blieb immer vor der Tür stehen und gab den Tieren Heu, Möhrchen und eine Streicheleinheit. Kaninchen finden sich an vielen Stellen in den mehrfach preisgekrönten Debüt der US-amerikanischen Schriftstellerin Tess Gunty – nicht nur im Titel des ungewöhnlichen Romans.

Living in the box

Kaninchenstall – das ist der Name eines Apartmenthauses in Vacca Valley, im Rustbelt Indianas gelegen. Die Stadt hat die besten Jahre hinter sich, belegt Platz eins auf der Liste der hoffnungslosesten Städte der USA. Die einst renommierte Autoindustrie liegt danieder, hohe Arbeitslosigkeit und Kriminalität herrschen. In dem Wohnblock lebt die 18-jährige Blandine Watkins. Sie hat die Schule abgebrochen, jobbt in einem Diner und verehrt Hildegard von Bingen, die berühmteste Geistliche und Mystikerin, Universalgenie und Multiplikatorin, wie man es wohl heute sagen würde, des Mittelalters, die seit einigen Jahren wieder mehr ins Bewusstsein rückt. Blandine hat mehrere, teils auch ungewöhnliche Nachbarn, die zu Beginn des Romans nach und nach vorgestellt werden.

20230819_154752(1)

Da sind Hope, eine junge Mutter, die unter Angstzuständen leidet, ein älteres Ehepaar und Joan, die allein lebt und beruflich Hass-Kommentare auf einer Plattform für Nachrufe löscht und schließlich in das Visier eines Mannes gerät, der einen hämischen Kommentar auf den Nachruf seiner ehemals berühmten Mutter verfasst hatte. Und da sind Malik, Todd und Jack, mit denen Blandine in einer WG lebt, die mehr oder weniger in sie verliebt sind, regelmäßig Tiere quälen und letztlich für einen blutigen wie spookyhaften Anfang sorgen, der am Ende ausführlicher beschrieben wird.

Von fleischfressenden Pflanzen

Es ist eine bunt gemischte „Truppe“, die der Leser kennengelernt, wobei Blandine, die ihr früheres Leben als Tiffany und ihren Namen abgelegt hat, im Mittelpunkt steht. Wie ihre drei Mitbewohner stammt sie aus schwierigen Verhältnissen und lebte zuvor in Pflegefamilien. Alle vier hatten sich auf einem Selbstständigkeitsworkshop kennengelernt. Sie ist unheimlich klug, raucht Gras und liebt fleischfressenden Pflanzen. Eine zu Beginn noch leidenschaftliche Affäre mit ihrem Musik-Lehrer James zieht ihr den Boden unter den Füßen weg.

„Die Wände des Kaninchenstalls sind so dünn, dass man dem Leben der anderen folgen kann wie einem Fortsetzungsroman im Radio.“

Wie dieses Apartmenthaus und seine bizarren Bewohner ist an diesem Roman nichts gewöhnlich. Nicht der Stil, nicht die Fülle an Themen, die Gunty in ihrem Erstling verarbeitet und darin vor allem Kontraste setzt. Es geht um Arm und Reich, Verfall und Neubeginn, Rebellion gegen das kapitalistische System, die Abgründe der digitalen Welt, Empathie versus Hass und Hetze, Krisen und Katastrophen. Rundum das, was aktuell wohl in vielen Gesellschaften auf der Tagesordnung steht. Wie ein wohltuender Gegenentwurf erscheint die junge Heldin, die mit ihrer mystischen Haltung und der Nähe zu Hildegard von Bingen den Reset-Taste drücken möchte.

Jüngste Preisträgerin

All diese Themen packt die US-Amerikanerin in ihr Debüt, das wie ein schnell geschnittener Film oder wie ein ständiges Scrollen durch eine Timeline wirkt. Zahlreiche Stimmen finden ihren Platz. Zitate, Zeitungsartikel, Online-Kommentare und Zeichnungen werden eingestreut. An manchen Stellen wirkt der Roman dadurch allerdings auch recht zerfasert. Manche Figuren und Bewohner des Hauses, in dem die Menschen schier aneinander geparkt leben, werden nur skizziert. An manchen Stellen ist bei der Lektüre auch eine gewisse Sättigung ob dieser Fülle an verrückten Details und schrägen Szenen zu spüren.

Tess Gunty ist selbst ein Kind Indianas. 1993 in South Bend geboren und aufgewachsen, studierte sie in New York Kreatives Schreiben. Mit ihrem Debüt „Der Kaninchenstall“ räumte sie mehrere literarische Preise ab, darunter 2022 den renommierten National Book Award – als jüngste Preisträgerin seit  Philip Roth (1933-2018), der den renommierten Preis erstmals 1960 für seinen Erzählband „Goodbye, Columbus“ erhielt. „Der Kaninchenstall“ ist ein provokantes, sowohl herrlich lakonisches als auch düsteres Gesellschaftsporträt, das keine Zweifel lässt, dass der Mensch und seine hypermoderne wie ausgeblutete Welt einen Neubeginn braucht. Kurzlebige Startups und Luxus-Eigentumswohnungen können einfach nicht die Lösung sein.

Weitere Besprechungen auf den Blogs „Schreiblust Leselust“ sowie „Wissenstagebuch“.


Tess Gunty: „Der Kaninchenstall“, erschienen im Verlag Kiepenheuer & Witsch, aus dem Englischen von Sophie Zeitz, 416 Seiten, 25 Euro

Foto von iStrfry , Marcus auf Unsplash

2 Kommentare zu „Tess Gunty – „Der Kaninchenstall“

Kommentar schreiben

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..