Hanna Bjørgaas – „Das geheime Leben in der Stadt“

„Wie ein fünf Zentimeter langer Tropfstein hing sie da – friedlich und mit geschlossenen Augen. Eines der geheimnisvollsten Lebewesen der Stadt.“

Erst eine Reise ans Ende der Welt ins tiefste Eis lenkt ihren Blick zurück auf die Schätze der heimatlichen Natur. Zwischen Pinguinen und Robben entdeckt die Biologin Hanna Bjørgaas während einer Schiffstour in die Antarktis die Gewöhnliche Gelbflechte, eine Art, die sie bereits aus ihrer Heimat Norwegen kennt. Statt einer erneuten Expedition in die Ferne beginnt sie vor der eigenen Haustür zu forschen – mit erstaunlichen Ergebnissen. Denn die Natur in der Stadt ist mannigfaltiger als gedacht. Ihr Buch „Das geheime Leben in der Stadt“ öffnet die Augen für das wilde Leben in der Nachbarschaft.

Unterwegs mit Experten

Wir kennen es doch selbst: Das Vertraute nehmen wir oftmals anders wahr als neue Orte und Räume. Wir „verschwenden“ dafür kaum noch unsere Zeit und Aufmerksamkeit. Kennen wir doch alles schon! Was soll es schon Neues geben?, glauben wir, meinen wir und verlernen zu hinterfragen, Veränderungen zu bemerken. Es braucht einen Anlass, eine andere Person, um unsere Einstellung neu zu justieren. Bei Bjørgaas sind es vor allem eine Reihe Experten, die sie während ihrer Recherche aufsucht, oftmals Koryphäen auf ihrem Gebiet wie der Krähenforscher Geir Sonerud, der Pilzexperte Per Marstad oder der Naturwissenschaftler Einar Timdal, manche sind auch ihre einstigen Dozenten gewesen.

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Sie alle zeigen ihr bei Rundgängen durch verschiedene Areale von Oslo wie Parks, den Botanischen Garten und darüber hinaus, dass das Leben im urbanen Raum nicht nur vielfältig, sondern auch recht hartnäckig ist. Die Arten haben sich an das Dasein zwischen Häuserschluchten und Rushhour angepasst. Sie wissen, wo sie Nahrung beziehen, wo sie sich zurückziehen und (über)leben können. Egal, ob Krähe, Ameise, Amsel oder Fledermaus. Während Möwen in einigen ländlichen Küstengebieten mehr und mehr verschwinden, tauchen sie in den Städten vermehrt auf – oftmals auch zum Ärger der Menschen. Denn nicht immer werden tierische Stadtbewohner geschätzt. Selbst die Autorin, die zugleich beklagt, dass die emotionale Verbundenheit des Menschen zur Natur verloren geht, fühlt sich angesichts einer Ameiseninvasion in ihrer Küche zuerst etwas unwohl, bis sie sich näher mit dem Phänomen beschäftigt.

Einige Tage, nachdem wir zusammen durchs Mikroskop geschaut hatten, bekam ich von Katelyn eine SMS: „Found water bear in driveway. Life is resilient!“ („Habe Bärtierchen in der Auffahrt gefunden. Leben ist widerstandsfähig!“)

Neben einer Reihe Tieren widmet sich Bjørgaas auch Pflanzen, Pilzen und Flechten, die als Gradmesser für die Luftverschmutzung gelten, sogar die kleinsten Bewohner ihres Komposts nimmt sie näher in Augenschein. Was unter dem Mikroskop so alles wuselt, lässt einen erstaunen. Kleinstlebewesen, die eine besondere Aufgabe haben und biologische Abfälle in wertvollen Humus verwandeln. Die Wissenschaftlerin sensibilisiert nicht nur für die Ökosysteme und ihre Gesetze, sie mahnt auch den Artenschwund durch den Einfluss des Menschen an und erzählt von der einen oder anderen überraschenden Erfahrung: dass der Stadtlärm Einfluss auf den Gesang der Amseln hat, dass Krähen und Möwen das Verhalten von uns Menschen studieren und uns zu unterscheiden wissen, dass der Kollaps von Zivilisationen auch mit Erde zusammenhängen kann.

Lehrreich wie Anschaulich

Bjørgaas, 1986 geboren, hat an der Hochschule in Telemark und an der Universität Oslo studiert. Sie beschäftigte sich mit den Themen Biodiversität und Evolution, absolvierte eine Zusatzausbildung für „Outdoor live“. Sie arbeitete als Reiseführerin in der Arktis und Antarktis und in Brasilien mit Kleinbauern zusammen. Mittlerweile lebt sie in Bodø. Ihr Buch ist eine Art Jahresbericht, die zwölf Kapitel führen in die Monate von Januar bis Dezember. Ihr Stil ist sehr bildhaft. Ihr gelingt es, viele, zum Teil auch komplexe Informationen zugleich sehr anschaulich zu vermitteln. Sie lässt sowohl ihre Beobachtungen und Erkenntnisse als auch ihre eigenen Gedanken und Gefühle einfließen, so dass ein auch sehr persönliches, vor allem ehrliches Buch entstanden ist.

Zugleich wartet die Ausgabe – von Sabine Richter versiert ins Deutsche übersetzt – mit einer Besonderheit auf: ihre Gestaltung mit eindrucksvollen Illustrationen, die jedem Kapitel voranstehen. Die schönsten und besten Bücher sind jene, die man Lieblingsmenschen schenkt. „Das geheime Leben in der Stadt“ gehört dazu. Nicht nur für Naturfreunde geeignet, sondern auch für jene, die es noch werden wollen. Denn Bjørgaas‘ Band beweist, dass man selbst über das vermeintlich Bekannte noch immer Staunen kann.

Weitere Besprechungen auf den Blogs „Kommunikatives Lesen“„Petras Bücher-Apotheke“ und „Kulturbowle“.


Hanna Bjørgaas: „Das geheime Leben in der Stadt. Nachrichten aus der urbanen Wildnis“, erschienen im Verlag stroux edition, in der Übersetzung aus dem Norwegischen von Sabine Richter; 304 Seiten, 26 Euro

Foto von Daniil Komov auf Unsplash

4 Kommentare zu „Hanna Bjørgaas – „Das geheime Leben in der Stadt“

  1. Vielen lieben Dank fürs Verlinken! Ein sehr schöner Beitrag, der den Zauber des Buchs großartig einfängt und wirklich ein wunderbares Buch, um es an Lieblingsmenschen zu verschenken. Da kann ich nur beipflichten. Herzliche Grüße!

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