„Jedes Lebewesen ist nur ein Durchgangsstadium zum nächsten.“
Welche Ereignisse, welche Begegnungen entscheiden über den Lebensweg eines Menschen? Im Fall des berühmten Verhaltensforschers und Nobelpreisträgers Konrad Lorenz (1903-1989) ist es Martina, eine Graugans. 1935 in Altenberg bei Wien aus dem Ei geschlüpft, wird sie ihren „Vater“ nahezu überallhin folgen. An ihr erkennt Lorenz den Verhaltensmechanismus der Prägung. Weitere bahnbrechende Entdeckungen und Gedanken begleiten seine spätere Laufbahn. Über sein Leben und Schaffen hat Ilona Jerger einen faszinierenden weil lebendigen wie lehrreichen Roman geschrieben, der Zeitgeschichte mit dem Heute verbindet und vor allem nicht die dunklen Flecken in Lorenz‘ Biografie auslässt.
Vom Graugans-Vater zum Rassenkundler
Wobei an dieser Stelle die Frage erlaubt sein darf, wie Lorenz selbst geprägt worden ist. Ohne Zweifel beeinflussten ihn die unzähligen Tiere von Vögel über Hunde bis zur Ratte, die im Zuge seiner Tierliebe und -Begeisterung die elterliche Villa bevölkerten, und der Vater den späteren Wissenschaftler. Adolf Lorenz war eine Koryphäe auf dem Gebiet der Orthopädie – und ein Verfechter der Eugenik, die untrennbar verbunden ist mit der von den Nationalsozialisten postulierten Rassenhygiene, die letztlich in die Verbrechen der Euthanasie führte.
Auch sein Sohn Konrad wird als Mitarbeiter des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP Teil eines menschenverachtenden Systems sein. Während sein engster Freund Bernhard Hellmann trotz einer Flucht in die Niederlande später im KZ ermordet wird, erlebt Lorenz, der sowohl Medizin und Zoologie studierte, unter den Nazis seinen Aufstieg. Als Professor für vergleichende Psychologie erklimmt er dank zahlreicher Unterstützer 1940 in Königsberg den „Thron“ und übernimmt den Kant-Lehrstuhl an der dortigen Philosophischen Fakultät.

Die Frage, wie Lorenz als tierliebender Mensch, liebevoller Mann an der Seite seiner Ehefrau Margarethe „Gretl“ Gebhardt und Vater, Lebensretter im russischen Gefangenenlager und späterer Umweltschützer zu einem Rassenkundler wurde, wird wohl viele Leser dieses Buches umtreiben. Ein Fragen, das, mit Blick auf das Dritte Reich, sich wohl niemals erschöpfen wird. Dabei zählen zu den wohl intensivsten wie berührendsten Passagen dieses Buches – neben den vielen tierischen Szenen – jene vier Jahre, als Lorenz in mehreren russischen Kriegsgefangenenlagern inhaftiert ist, in denen eine Insekten-Mahlzeit oder ein gebratener Igel über das Überleben entscheidet. Lorenz führt trotz der desaströsen Verhältnisse seine Studien fort. Seine Gedanken schreibt er auf zerschnittene Zementsäcke.
„Es ist kein Fünkchen übertrieben, wenn ich sage: Erst das Wandern verwandelt unseren Planeten in einen unermesslich pulsierenden Organismus. Von der Sonne beschienen und vom Mond umkreist.“
Viele Details wie jenes bereichern diesen Roman, der den Blick nicht nur auf die verschiedenen Lebensstationen lenkt, sondern ihn weitet. Jerger erzählt ein großes Stück Zeitgeschichte. Zahlreiche bekannte Namen tauchen auf. Von Bernhard Grzimek bis Martin Heidegger, von Lee Miller bis Paul Celan, von Karl Popper bis Hannah Arendt. Schwester Adelgundis, eine Nonne, stellt eine Verbindung zwischen Realität und Fiktion her. Als Zeitzeugin ist sie zugleich Verwandte jener Erzählerin, die im Roman mehrfach zu Wort kommt. Die junge Biologin, die Tierwanderungen untersucht, berichtet vom Einfluss des „Gänsevaters“ auf ihren Lebensweg sowie von aktuellen Forschungen. Sie schlägt somit eine Brücke ins Hier und Jetzt, schaut als wichtiges Korrektiv auf das Lorenzsche Weltbild aus heutiger Sicht, denn der Nobelpreisträger, der mit seinen Studien das Gebiet der vergleichenden Verhaltungsforschung mitbegründet und sich zum Ziel gesetzt hatte, der Darwin des 20. Jahrhunderts zu werden, wird sich Zeit seines Lebens nie von seinen Aussagen trennen.
Verständlich, lehrreich, packend
Bereits mit ihrem Debüt „Und Marx stand in Darwins Garten“, 2017 erschienen, widmete sich Ilona Jerger, die mehrere Jahre als Chefredakteurin die Geschicke der Zeitschrift „natur“ lenkte, zwei bedeutenden Denkern. Als Sachbuchautorin hat sie bei C.H. Beck und Rowohlt veröffentlicht. Mit ihrem neuesten Werk gelingt es ihr wieder, die Grenzen zwischen sachlicher Biografie und fiktivem Roman zu überschreiten, beide Genres auf eindrucksvolle Weise zusammenzuführen. Vom Roman holt sie sich das szenische und bildhafte Schreiben, vom Sachbuch das Vermitteln eines wissenschaftlichen Hintergrunds. Das Literaturverzeichnis am Ende des Buches ist für einen Roman recht umfangreich.
Wie die Autorin Wissenschaft und Zeitgeschichte verständlich wie packend zusammenführt, begeistert. Darüber hinaus bringt ihr Roman uns vor Augen, wie eindrücklich es noch immer ist, über die Natur, ihre Erscheinungen und Gesetze zu staunen, und wie wichtig es ist, sie zu schützen und zu bewahren.
Eine wunderbare Besprechung gibt es auf dem Blog „Kulturgeschwaetz“.
Ilona Jerger: „Lorenz“, erschienen im Piper Verlag, 336 Seiten, 24 Euro
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Ein Kommentar zu „Ilona Jerger – „Lorenz““