Iida Turpeinen – „Das Wesen des Lebens“

„Die Natur ändert ihre Gesetze nicht.“ 

Sie erschien vor Millionen von Jahren auf der Erde. Und verschwand von ihr in nur kurzer Zeit durch des Menschen Hand. Ein Pelztierjäger erschlug das letzte Exemplar der Stellerschen Seekuh in der zweiten Hälfe des 18. Jahrhunderts nahe der Beringinsel (früher Awatscha-Insel). Benannt wurde sie nach dem deutschen Arzt und Naturwissenschaftler Georg Wilhelm Steller (1709-1746), der das Tier während der Großen Nordischen Expedition sah und wissenschaftlich beschrieb. Seine Geschichte und die anderer Menschen, deren Leben mit den sanften Riesen verbunden sind, erzählt die finnische Autorin Iida Turpeinen in ihrem großartigen Roman „Das Wesen des Lebens“.  

Auf großer Forschungsreise

Von Hydrodamalis gigas, wie das einst im nördlichen Pazifik beheimatete Tier wissenschaftlich heißt, existieren heute neben Hautstücken nur noch 27 Skelette – verteilt auf mehrere Naturkundemuseen in aller Welt. Das National History Museum of Helsinki besitzt das weltweit intakteste und vollständigste, und hier beginnt auch Turpeinens Roman mit einer Einstiegszene, um daraufhin in das Jahr 1741 und auf die beiden Schiffe St. Peter und St. Paul zu führen. Steller zählte zu den Teilnehmern der Großen Nordischen Expedition unter Leitung des dänischen Kapitäns Vitus Bering (1681-1741), der die Forschungsreise nicht überlebte.  

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Auf dieser kräftezehrenden Expedition sieht Steller als erster und einziger Wissenschaftler jemals die sanften Riesen, die die Besatzung an Meerjungfrauen erinnern, von den Männern allerdings aus purem Zeitvertreib heraus getötet werden. Steller untersucht die rund acht Meter langen Tiere. Sein Wunsch, ein Skelett für wissenschaftliche Zwecke zu bewahren, bleibt unerfüllt. Viele Jahre später werden nach ihm mehrere Arten benannt, nicht nur eben jene Seekuh. 

Zeit- und Ortswechsel: Wir finden uns wieder im Jahr 1859 in Alaska, das damals noch zu Russland gehörte. Gouverneur Johan Hampus Furuhjelm soll für seinen Landsmann Professor Alexander von Nordmann ein Skelett der Seekuh auftreiben. Der Finne in den Diensten der Russisch-Amerikanischen Handelskompanie treiben indes andere Sorgen um: Seine Frau Anna hat Schwierigkeiten, sich an das karge Land und seine Menschen zu gewöhnen. Sie will nicht, dass ihre neue geborene Tochter in die Nähe von Indigenen kommt, was sie indes nicht verhindern kann. Währenddessen geht schlagartig die Zahl der Felle von Seeotter, Robben, Biber und Füchse zurück, mit denen die Kompanie reich geworden ist. Dass der Mensch Arten ausrotten kann, mag damals keiner glauben. Irgendwo müssen die Tiere doch noch sein…     

„Sie wird zu einem Riesen unter ihresgleichen, zu einer Anomalie innerhalb ihrer Sippe.“ 

Schließlich erhält von Nordmann ein Skelett. An seiner Seite weiß der Professor eine begabte Zeichnerin: Hilda Olson. Sie wird von Nordmann künftig auf Forschungsreisen durch Osteuropa, die Türkei und Russland begleiten – jeden frauenfeindlichen Angriff zum Trotz. Vor allem die Welt der Spinnen übt eine besondere Faszination auf die Künstlerin aus. Mittlerweile glaubt von Nordmann, dass der Mensch Arten ausrotten kann. 1859 veröffentlicht Charles Darwin sein Buch „Die Entstehung der Arten“, das Hauptwerk seiner Evolutionstheorie, das heute als Meilenstein in der Geschichte der Naturwissenschaften gilt. 

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Zeichnung von Henry Neville Hutchinson (Wikipedia)

Zweiter Zeit- und Ortssprung: Wir lernen den Ornithologen John Grönvall kennen. Man schreibt die 1950er-Jahre. Grönvall ist zugleich ein begnadeter Präparator und leidenschaftlicher Naturschützer. Er kümmert sich um die Eiersammlung des Tierkundemuseums in Helsinki, das unter anderem auch ein Ei des ebenfalls ausgestorbenen Riesenalks beherbergt, und setzt sich mit seinen Brüdern für den Schutz von Seevögeln ein. Eines Tages erhält er den Auftrag, ein Skelett der Stellerschen Seekuh aufzubauen. Womit sich der Kreis wieder schließt.  

„Kein Gold der Welt bringt die Eier eines ausgestorbenen Vogels zurück, weshalb der Lord sich hinkniet und die Schale aufsammelt, während er seine Tränen und seinen Ärger hinunterschluckt.“ 

Stellersche Seekuh, Wandertaube, Riesenalk – die Liste ausgestorbener Arten ist lang. Wie viele Tierarten in den vergangenen vier bis fünf Jahrhunderten für immer verschwunden sind, ist nicht sicher – auch ob dies aufgrund natürlicher Ursachen oder durch den Einfluss des Menschen geschehen ist, der zweifellos immens ist. Nach fünf Massensterben im Laufe der Erdgeschichte sprechen Wissenschaftler davon, dass das aktuelle sechste Massensterben allein vom Menschen verursacht wird. Darüber hat die amerikanische Journalistin und Autorin Elizabeth Kolbert ein meisterhaftes, mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnetes Buch geschrieben.

Zwischen Roman und Sachbuch 

Es überrascht deshalb nicht, dass dieses Thema wie beispielsweise auch der Klimawandel nunmehr häufiger Eingang in die Literatur findet. Zuletzt erzählte die Französin Sibylle Grimbert in ihrem großartigen Roman „Der letzte seiner Art“ die Geschichte des Riesenalks, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts von der Erde verschwand. Grimbert setzt mit ihrem Roman vor allem auf die Emotionen des Lesers, Turpeinen, die sich derzeit in ihrer Dissertation mit dem Verhältnis zwischen Naturwissenschaften und Literatur beschäftigt, sucht indes einen anderen Weg: Ihr Roman kommt ohne jeglichen Dialog aus, ist jedoch reich an bildhaften Beschreibungen und vor allem Fakten und Hintergründen. Steller, Furuhjelm, von Nordmann und Grönvall, ja auch die Zeichnerin Hilda Olson sind alle reale Figuren. Sie alle haben gelebt und gewirkt. 

In „Das Wesen des Lebens“ verschwimmen die Grenzen zwischen Roman und Sachbuch, und der Leser bekommt es mit vielen Themen zu tun. Nicht nur das Artensterben auch die Unterdrückung indigener Bevölkerungsgruppen, Frauenfeindlichkeit und natürlich die Rolle der Wissenschaft sowie die zunehmende Bedeutung des Naturschutzes lässt Turpeinen in ihrem komplexen wie facettenreichen Roman anklingen.

Man könnte ihr vorwerfen, dass sie damit ihr Buch überfrachtet. Doch jedes Thema führt zum nächsten. Alles ist miteinander verbunden. Es geht – wie es der Titel schon zeigt – um das Leben, das in einer für uns nahezu unendlich erscheinenden Zeit entstanden ist und sich entwickeln konnte, allerdings in einer im Vergleich zur Evolution winzigen Phase und in einer unfassbaren Geschwindigkeit auch infolge des Klimawandels ausgelöscht wird, und den Einfluss des Menschen, der Gutes wie Schlechtes verantwortet. Turpeinen dankt am Ende ihres Buches nicht nur den Wissenschaftlern für ihre unermüdliche Arbeit, sondern eben auch all jenen Tieren, die es nicht mehr gibt. Während der Entstehung ihres auf seine Art ergreifenden Romans sind 374 Arten für ausgestorben erklärt worden – die australische Hüpfmaus genauso wie der Weihnachtsinsel-Waldskink.    


Iida Turpeinen: „Das Wesen des Lebens“, erschienen im S. Fischer Verlag, in der Übersetzung aus dem Finnischen von Maximilian Murmann; 320 Seiten, 24 Euro 

Foto von Mariya Tereshkova auf Unsplash
 

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