Sibylle Grimbert – „Der Letzte seiner Art“

„Und so bewunderten sie gemeinsam die enorme Fülle an Leben auf dieser Erde.“

Ihn gibt es nicht mehr. Ausgelöscht von des Menschen Hand ist er nur noch auf Bildern oder ausgestopft in naturkundlichen Museen zu betrachten. In der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Riesenalk das letzte Mal gesehen. Eine Bronzeskulptur des Künstlers Todd Mc Grain an der isländischen Küste mit Blick auf die Vogelinsel Eldey erinnert heute an den ausgestorbenen Vogel, der einem Pinguin ähnelte. Auf jenem kargen Eiland beginnt auch Sibylle Grimberts hochemotionaler historischer Roman, der von einer besonderen Freundschaft erzählt und uns zugleich vor Augen hält, wie wir mit der Natur umgehen – im Guten wie im Schlechten. 

Aus dem Meer gefischt

1835: Gus wird Zeuge eines blutigen Gemetzels in idyllischer Landschaft. Vom Boot aus sieht er, wie Männer Riesenalke töten – mit Knüppel und ihren Händen. Mit ihren Füßen zertreten sie die Eier. Wenig später fischt Gus einen dieser flugunfähigen Vögel aus dem Wasser. Der junge Zoologe nimmt das Tier mit in sein Domizil nach Orkney, wo die Haushälterin Mrs. Bridge entsetzt ist und aus ihrer Abneigung gegenüber dem Vogel keinen Hehl macht. Doch mit der Zeit lebt sich der Vogel nicht nur ein, eine innige Freundschaft zwischen Gus und Prosp, wie er seinen tierischen Zögling später nennen wird, entsteht.

20231003_104411

Der Zoologe übernimmt Verantwortung, kümmert sich rührend um Prosp, in dem er ihn mit Wasser überschüttet, mit Fischen versorgt und ihm die eine oder andere Streicheleinheit gewährt. Als der Notar der Insel, Mr. Buchanan, Gus warnt und ihn den Wert des Tieres vor Augen hält, entscheidet sich der Zoologe, die Insel zu verlassen. Ihn zieht es auf die Färöer Inseln, wo er seine Frau Elinborg kennenlernt. Seine naturwissenschaftlichen Forschungen setzt er fort. Ihn treibt es jedoch immer wieder um, dass Prosp in Unfreiheit lebt, nie in Kontakt mit Artgenossen kommen kann.

„Plötzlich hatte Gus das Gefühl, dass er selbst ein Riesenalk geworden war, dass er dachte und fühlte wie Prosp, während die Welt, ihre Welt, nach und nach vor ihren Augen verblasste und sie beide, Gus und Prosp, aneinander gelehnt inmitten einer langsam ergrauenden Landschaft versteinerten.“

Es gibt viele emotionale Szenen in Grimberts preisgekrönten Roman, ohne jemals kitschig zu wirken oder nur ansatzweise an den Rand dessen zu geraten. Eine davon ist, wie Gus mit seinem Riesenalk eine Vogel-Kolonie auf Island besucht. Um es einmal vorwegzunehmen: Es wird ein einschneidendes Erlebnis für beide. Die Französin zeigt anhand ihres ungewöhnlichen Duos, welche Folgen Abhängigkeit, aber auch Verantwortung ohne Kompromisse bedeutet. Wie sie sowohl Gus mannigfaltige Gedankenwelt als auch die kleinsten Reaktionen Prosps anhand seiner Körpersprache inmitten einer eindrucksvollen Natur-Kulisse beschreibt, ist meisterhaft. Immer mehr wachsen Mann und Tier zusammen, werden schier untrennbar, weil Gus schließlich auch erfährt, dass die Riesenalken nach und nach verschwinden.

Blick in die Gedankenwelt

Grimbert, 1967 in Paris geboren, ist Schriftstellerin und Verlegerin. Für „Der Letzte seiner Art“ wurde sie mit dem Goncourt des animaux ausgezeichnet. Der seit 1982 verliehene Preis würdigt einen Roman oder Essay, der Tiere ehrt. Seine thematische Tiefe gewinnt der Roman durch seine Auseinandersetzung mit dem Einfluss des Menschen auf Natur und Umwelt. Der Leser erfährt viel über die damalige Sicht der Wissenschaft, eine Zeit, in der die Lehren Charles Darwins noch nicht bekannt sind, in der die Menschen meinten, dass bedrohte Arten doch noch irgendwo in einem entlegenen Winkel zu finden sind. Nie zogen sie in Betracht, dass sie selbst Ursache des Sterbens von Arten sein können. Für die damalige Generation war der unwiderrufliche Verlust von einer Art schlichtweg nicht begreiflich. So schreibt Grimbert in ihrem Nachwort: „Ihr Blick auf die Geschichte der Welt hat nichts mit dem zu tun, was heute für uns eine Selbstverständlichkeit ist. Die Diskussion, ob Arten Arten aussterben können, findet zu diesem Zeitpunkt nur in der Paläontologie statt (…).“ Eine faszinierende Wissenschaft, die Übrigen damals noch in den Kinderschuhen steckte.

Heute ist bekannt, dass schon die Megafauna, die größten Säugetiere unseres Planeten, die ebenfalls im Roman Erwähnung finden, durch den Menschen ausgerottet worden sind, dass wir uns mittendrin im sogenannten sechsten Massensterben befinden, wie es die amerikanische Wissenschaftlerin Elizabeth Kolbert in ihrem mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Sachbuch „The Sixth Extinction“ eindrucksvoll beschreibt.

Alca_impennis_hharder
Illustration Heinrich Harder, aus Tiere der Urwelt (1916)

Der im Nordatlantik verbreitete Riesenalk wurde letztmals 1852 gesehen, manche Quellen gehen von dem Jahr 1844 aus. Er war gut an die dortigen rauen Verhältnisse angepasst, besiedelte die Klippen entlang der Küsten. Sein früherer englischer Name „penguin“ wurde später auf die Tiere der Antarktis übertragen. Gejagt worden die Tiere wegen ihrer Daunen, das Fett aus ihren Knochen wurde als Brennstoff genutzt. Zudem waren die Vögel heißbegehrte Sammlerobjekte. Ihre geringe Vermehrungsrate – jedes Weibchen legte pro Jahr maximal ein Ei – trug dazu bei, dass die Tierart sich auf der Liste der vom Menschen ausgerotteten Arten finden lässt. Wie das Quagga, die Stellersche Seekuh, die Wandertaube oder die Réunion-Riesenschildkröte, um nur einige zu nennen.

Große Lektion  für den Leser

Mit Hilfe der während der Lektüre entstehenden Emotionen wird der Zugang zu diesem bedeutenden und zugleich breiten Thema erleichtert. „Der Letzte seiner Art“ über eine ungewöhnliche Freundschaft bereitet eine große Lektion – nicht nur in puncto Wissenschaft, sondern auch in Sachen Empathie. Den Gebrauch von Taschentüchern sollte man einkalkulieren. Am Ende verwandelt sich Gus in einen Einsiedler, der sich vollständig in die Einsamkeit zurückgezogen hat. Er ist ein zweiter Prosp geworden, für den es allerdings Rettung geben wird.

Eine weitere Besprechung gibt es auf dem Blog „Kulturgeschwätz“.


Sibylle Grimbert: „Der Letzte seiner Art“, erschienen im Eisele Verlag, in der Übersetzung aus dem Französischen von Sabine Schwenk; 256 Seiten, 23 Euro

Foto von Annie Spratt auf Unsplash

2 Kommentare zu „Sibylle Grimbert – „Der Letzte seiner Art“

Kommentar schreiben

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..