Dennis Lehane – „Sekunden der Gnade“

„Was ist nur los mit dieser Welt, Detective?“

1974. Richard Nixon steht vor dem Rücktritt als Präsident der USA, das Land zieht seine letzten Soldaten aus Vietnam ab. Intel stellt den ersten vollwertigen 8-Bit-Mikroprozessor vor. VW bringt den VW Golf heraus. Schwergewichtsboxer Muhammad Ali gewinnt gegen George Foreman und wird Weltmeister. In jenem Jahr kommt es in Boston zu Unruhen zwischen der schwarzen und weißen Bevölkerung. Der Grund: ein Erlass, nach dem künftig städtische Busse schwarze Kinder zu Schulen transportieren, die bisher durchgehend „weiß“ waren und umgekehrt. In jene spannungsgeladene Zeit führt Dennis Lehane mit seinem neuen Roman „Sekunden der Gnade“.

GEheimnisse und schlechter Umgang

Von einem Tag auf den nächsten verschwindet Jules, die 17-jährige Tochter von Mary Pat Fennessy. Die allein erziehende Mutter und ihre Tochter leben im Süden Bostons, im irischen geprägten Viertel Commonwealth. Mary Pat arbeitet in einem Altersheim, braucht weitere Jobs, um über die Runden zu kommen. Das Geld ist knapp, Mary hat Schulden. Nach einem Abend, um mit Freunden abzuhängen, kehrt Jules nicht mehr nach Hause zurück. Ihre Mutter macht sich auf die Suche und muss schnell erfahren, dass ihre Tochter dunkle Geheimnisse und einen schlechten Umgang mit Kriminellen und Drogenhändlern hat.

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Die Stimmung im Viertel und darüber hinaus ist angeheizt. Es wird zu Protestkundgebungen aufgerufen. In den Kneipen und am heimischen Küchentisch wird gehetzt gegen Schwarze. Als ein junger Afroamerikaner tot und fürchterlich zugerichtet in einer U-Bahn-Station gefunden wird, kann Mary Pat noch nicht ahnen, welche Rolle ihre Tochter bei diesem Verbrechen gespielt hat. Aus ihrer verzweifelten Suche wird ein blutiger Rachenfeldzug mit ihren ganz eigenen Mitteln, bei dem sie der Polizei immer einen Schritt voraus ist. Die „Löwenmutter“ überschreitet nicht nur moralische Grenzen, sondern sticht in ein gewaltiges Wespennest: Sie legt sich mit Frank und Marty an, die das Viertel in der Hand haben, organisierte Kriminalität betreiben und ein System aus Drogen- und Waffenhandel, Prostitution und Korruption aufgebaut haben, an dem die Heldin nun kräftig rüttelt.

Verluste und Verzweiflung

Mit Mary Pat hat Lehane eine eindrückliche Protagonistin geschaffen, die mit all ihren Stärken und Schwächen, mit ihrer ganzen Verzweiflung, aber ihrem unerschrockenen Mut gezeigt wird. Schmerzliche Verluste liegen hinter ihr. Ihr Sohn starb nach seiner Rückkehr aus Vietnam an einer Überdosis, ihre erste Liebe war ein Einbrecher und Dieb. Von ihrem zweiten Partner wurde sie verlassen. Mary Pat hat nichts mehr zu verlieren, wenn sie mit ihrem Schrottwagen namens Bess unterwegs ist. Ihr zur Seite stellt Lehane den Polizisten Bobby, der für die Mordkommission tätig ist und wohl als einziger Verständnis für ihre Lage aufbringt, der allerdings von seinem Einsatz in Vietnam ebenfalls traumatisiert ist. Beide machen in jener Zeit eine Wandlung durch. Mary Pat fragt sich nach ihrem schlechten Einfluss auf ihre Tochter, blickt zurück auf ihre eigene gewalttätige Kindheit, ihre Familie, die zerrissen ist. Bobby zweifelt hingegen am Rechtssystem. Das Gefühl der Desillusionierung prägt die Protagonisten und zieht sich wie in ein roter Faden durch den Plot.

„Ich haben ihnen gesagt, Detective Coyne, dass man jemandem nicht alles nehmen kann. Irgendwas muss man ihm lassen. Einen Krümel. Einen Goldfisch. Etwas Schutzbedürftiges. Etwas, wofür es sich zu leben lohnt. Was in Gottes Namen hat einer sonst noch zu verlieren.“

Lehane verarbeitet in seinem neuen Roman eigene Erlebnisse. In einem Vorwort schildert er, wie er 1974 als Kind mit seinem Vater im Auto in eine Protestaktion geraten war. Er sah brennende Puppen, hörte den Parolen skandierenden Mob, spürte, wie das Auto durchgeschüttelt wird. Eine ähnliche Szene, die schier unaufhaltsame wie beängstigende Gewalt der Massen, wird im Buch beschrieben, in der auch Edward Kennedy (1932-2009), Bruder von John F. und Robert F. Kennedy, einen unrühmlichen Auftritt hat. Die Teilnehmer der Kundgebung brüskieren ihn, währenddessen kommen Mary Pat, die selbst zuvor gegen den Erlass war, die Zweifel. Der Süden Boston ist zerrissen, die Grenzen zwischen weißen und schwarzen Vierteln ist für Außenstehende nahezu unsichtbar. Wer diese überschreitet, läuft Gefahr, in den Fokus zu geraten, wie es eben dem schwarzen Jugendlichen geschehen war.

„Als er näher herangeht, sieht ihr Gesicht aus, als wären Bäume aus einem Märchen über sie hergefallen. Sie haben sie mit ihren dünnen Zweigen ausgepeitscht, bis sie zur anderen Seite des Zauberwalds kam.“

Der US-amerikanische Krimi- und Thrillerautor gehört wohl zu jenen seines Fachs, an deren Büchern man nicht vorbeikommt. Lehane, 1965 im Bostoner Stadtteil Dorchester geboren, absolvierte nach einem abgebrochenen Lehramts- und Journalistik-Studium sowie einigen Gelegenheitsjobs ein Studiengang für Kreatives Schreiben an der Florida International University. Er debütierte 1994 mit seinem Roman „A Drink Before the War“ („Ein letzter Drink“), für den er einen Preis erhielt. Es folgten weitere Romane, darunter „Mystic River“ und „Shutter Island“, die beide in hochkarätiger Besetzung verfilmt worden sind, sowie die Kennzie-Gennaro-Reihe. Lehane verfasste zudem mehrere Drehbücher. 2013 wurde ihm der Edgar Allan Poe Award verliehen.

Hintergrund noch immer aktuell

„Sekunde der Gnade“ ist kein Krimi, der so einfach verdaut werden kann. Dafür ist das Schicksal der Heldin zu ergreifend und aufwühlend, die oftmals gewalttätigen Szenen zu blutig, der historische Hintergrund allzu ernst – und vor allem noch immer aktuell. Und wir brauchen nicht nur in die jüngste Vergangenheit und Gegenwart der USA zu blicken, sondern auch auf Ereignisse vor „unserer Haustür“ schauen, wenn es um Hass, Hetze und Rassismus geht, der von traditionellen Vorurteilen genährt wird.

Wenn Mary Pat sich fragt, welchen Einfluss sie auf ihre Tochter hatte, zeigt sich hier eine große Generationsfrage. Was können die Älteren den Jüngeren lehren, welchen Einfluss nehmen sie, im Guten wie im Schlechten – und wie bedeutend ist dieser. So ist „Sekunde der Gnade“ nicht nur ein hochspannender und vielschichtiger, sondern auch ein aktueller und brisanter Roman und hat in dieser Kombination aus Psychogramm und Gesellschaftsporträt Seltenheitswert.

Eine weitere Besprechung gibt es jeweils auf den Blogs  „Schreiblust Leselust“, „letteratura“ und „leseschatz“.


Dennis Lehane: „Sekunden der Gnade“, erschienen im Diogenes Verlag, in der Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Malte Krutzsch; 400 Seiten, 26 Euro

Foto von peter bucks auf Unsplash

5 Kommentare zu „Dennis Lehane – „Sekunden der Gnade“

  1. Ich freue mich dass dir dieses Buch von Lehane, der zu.meinen Lieblingsautoren gehört, auch gefällt. Auf die Idee, es für einen Krimi zu halten, wäre ich aber nicht gekommen. Es ist ein ganz großartiger Gesellschaftsroman, der mich absolut begeistert hat. Danke für die positive Besprechung!

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    1. lieben Dank für Deinen Kommentar, Elvira. Ich denke, der Roman ist sehr viel. Die Suche nach Jules und die Polizeiarbeit sehe ich schon als Anzeichen für einen Krimi an, zumal auch die organisierte Kriminalität eine Rolle spielt. Lehane muss ich noch für mich entdecken. Ich hatte vor einiger Zeit einen Roman von ihm gelesen, mit dem ich so meine Probleme hatte. Aber sein neuester Streich ist ein guter Wiederanfang. Liebe Grüße (PS: Schreibe Deinen Namen einfach direkt in den Kommentar)

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  2. Vor zwei Tagen habe ich genau dieses Buch in meiner Lieblingsbuchhandlung gekauft. Und schon lese ich jetzt hier bei Dir die passende Besprechung und fühle mich bestätigt, eine gute Wahl getroffen zu haben. Auf jeden Fall freue ich mich jetzt nochmal mehr auf die Lektüre und sende herzliche Wochenendgrüße!

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