Tore Renberg – „Die Lungenschwimmprobe“

„Für einen Fall wie diesen waren die Zeiten miserabel.“

Nach einem tragischen Ereignis wird oft eine bekannte Floskel verwendet: Man sei zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Im Fall von Anna Voigt trifft es zu, wenngleich die junge Frau gleich zwei Tragödien erfährt: Die 15-Jährige bringt ein totes Kind zur Welt – und wird wegen Kindesmord angeklagt, was zu ihren Lebzeiten meist den sicheren Tod bedeutet. Die Untersuchungsmethode, die sie entlasten kann, gibt es schon. Aber es braucht viele Jahre bis die sogenannte Lungenschwimmprobe des Zeitzer Stadtarztes  Johannes Schreyer (1631-1694) anerkannt werden sollte.

Wissenschaft hat einen Schweren Stand

Bis heute wird das forensische Verfahren angewandt, mit dem sich ermitteln lässt, ob es bei einem toten Neugeborenen um eine Totgeburt oder um ein Kind handelt, das nach der Geburt noch gelebt hat und eventuell Opfer einer Kindstötung war. Doch in Sachsen des 17. Jahrhunderts werden wissenschaftliche Erkenntnisse oft als Hokuspokus angesehen. Kirche und Adel regieren das Volk mit harter Hand. Die Constitutio Criminalis Carolina, bereits mehr als 100 Jahre zuvor 1532 in Kraft getreten, gilt noch immer als Strafgesetzbuch. Scharfrichter haben ein gutes Auskommen.

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In diese Zeit, nur wenige Jahrzehnte nach dem verheerenden Dreißigjährigen Krieg, der das Land verwüstet und 40 Prozent der deutschen Landbevölkerung durch Gewalt und Seuchen ausgelöscht hat, führt der norwegische Schriftsteller Tore Renberg mit seinem historischen Roman „Die Lungenschwimmprobe“, der auf vielerlei Art beeindruckt. Doch erst einmal eine Frage stellen lässt?

beeindruckende Rechercheleistung

Wie kommt ein Norweger dazu, die Geschichte der Anna Voigt, ihrer Familie und ihrer Verteidiger zu erzählen? Er habe bei Recherchen für ein Theaterstück in Stavanger ein Buch zur Gerichtsmedizin entdeckt – und damit den Stoff seines Romans, wie er während einer Lesung in Leipzig erzählte. Seine Begeisterung ist geweckt, ein Enthusiasmus, der ihn bis nach Deutschland führen wird, wo er weiter recherchiert. Ausgiebig und an all jenen Stätten, wo Anna Voigt lebte und ihre beiden großen Verteidiger wirkten: eben jener Zeitzer Stadtarzt Schreyer sowie Christian Thomasius (1655-1728), Jurist in Leipzig und späterer Mitbegründer und Professor an der juristischen Fakultät der Universität zu Halle.

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Christian Thomasius, Ölgemälde von Johann Christian Heinrich Sporleder (Foto: Markus Scholz auf Wikipedia)

Die umfangreichen Recherchen,  die einen unermüdlichen E-Mail-Austausch, Besuche in kleinen wie großen Archiven und eine Radtour im Sommer 2019 nach Halle, Leipzig, Pegau und Zeitz umfassen, schlagen sich nieder in einen Roman, der nicht nur ein erhellendes wie detailfreudiges Panorama dieser Zeit im Kopf des Lesers entstehen lässt und viel Wissen über Medizin, Politik und Strafrecht, die Rolle der Frau sowie den Alltag der Menschen vermittelt; wer weiß schon, dass Tee, den Thomasius gern trank, damals als teure Rarität galt. Das Werk ist vor allem eine unvergleichlich lebendig erzählte Geschichte mit eindrücklichen Figuren, in der sich der Autor auch immer mal wieder zur Wort meldet, beispielsweise wenn er seine wichtigsten Quellen benennt.

„(…) die Geschichte der Welt ist auch die Geschichte des männlichen Bedürfnisses, Frauen kleinzuhalten.“

Wir lernen die unterschiedlichsten Menschen, die unterschiedlichsten Stände kennen: die junge unbedarfte Anna Voigt genauso wie ihren angesehenen Vater, einen Gutsbesitzer, der später das Gesetz selbst in die Hand nehmen wird. Neben Schreyer und Thomasius, die beide die Leidenschaft für Bücher teilen und als Vordenker einer neuen Zeit, der späteren Aufklärung, gelten, betritt unter anderem auch der Leipziger Scharfrichter Christoph Heintze die Bühne.

Der vielstimmige Roman, aus sechs Büchern bestehend, umfasst eine Zeitspanne von 1681 bis ins Jahr 1696, wobei die Handlung mit ihren Zeitsprüngen nicht chronologisch erzählt wird. Er beschreibt den Niedergang der Familie Voigt, die in ihrem Heimatort und darüber hinaus wie Aussätzige behandelt wird, sowie Annas körperliches wie seelisches Leid, die gefoltert, inhaftiert, des Landes verwiesen wird.  Doch auch Thomasius bekommt die Folgen des Falles deutlich zu spüren. Mit seinem modernen Denken und seinem Engagement für die Angeklagte macht er sich viele Feinde, selbst in seinem eigenen Umfeld. Er wird 1690 seine Geburtsstadt Leipzig verlassen und nach Halle gehen.

„Oh, was leben wir in verwirrenden Zeiten! Chaos, Chaos, Chaos. In der einen Stadt dürfen die Söhne eines Scharfrichters einen medizinischen Doktortitel erwerben, aus der anderen werden sie vertrieben.“

Tore Renberg, 1972 in Stavanger geboren, gilt in seinem Heimatland als vielseitiger und namhafter Autor. Er studierte in Bergen Literaturwissenschaft und Philosophie, wirkte als Journalist und Kritiker. Er veröffentlichte Kurzprosa, Kinderbücher und Romane. Seine Werke wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Für sein Debüt, den Erzählband „Sovende floke“, erhielt er den Tarjei-Vesaas-Debütantenpreis, zweimal wurde ihm der Preis der norwegischen Buchhändler verliehen.

Übersetzung mit Herausforderungen

„Die Lungenschwimmprobe“ erschien 2023 im Original. Für die Übersetzerinnen Karolin Hippe und Ina Kronenberg war es eine Herausforderung, eine historische Geschichte, die allerdings in einem modernen Norwegisch erzählt wird, in die deutsche Sprache zu übertragen – sowohl für die Leserinnen und Leser verständlich als auch mit Respekt vor den Originalquellen, wie sie in einer Anmerkung verweisen. Auch Wissenschaftlern des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung (IZEA) in Halle wurde das Manuskript zur sprachlichen Begutachtung vorgelegt.

Renberg ist mit seinem Roman ein großer Wurf gelungen, der nicht nur diese Zeit und jene Zeitenwende im ausgehenden 17. Jahrhundert samt ihrer Protagonisten eindrücklich beschreibt. Trotz des historischen Anspruchs und des Umfangs von rund 700 Seiten erweist sich der dicke Wälzer als satter Schmöker, mit dem dann und wann auch eine Brücke in die Gegenwart geschlagen werden kann. Denn leider erleben Wissenschaftsskepsis und -feindlichkeit mittlerweile eine Renaissance mit Folgen für unsere Gesellschaft.

Weitere Besprechungen gibt es auf den Blogs „literaturleuchtet“ und „Lust auf Literatur“.


Tore Renberg: „Die Lungenschwimmprobe“, erschienen im Luchterhand Literaturverlag, in der Übersetzung aus dem Norwegischen von Karoline Hippe und Ina Kronenberger; 704 Seiten, 26 Euro

Foto: Europeana auf Unsplash

3 Kommentare zu „Tore Renberg – „Die Lungenschwimmprobe“

  1. Guten Morgen.
    Ich bin von dem Buch auch ganz begeistert und es gehört definitiv zu den besten Büchern, die ich dieses Jahr lesen durfte. Und dass, obwohl es echt teils sehr unangenehm zu lesen ist, was in diesem Roman alles passiert.

    Das erste Zitat oben war von Christian Thomasius, wenn ich mich recht erinnere? Als er erstmals mit dem Gutsherrn, Annas Vater, sprach und stille Überlegungen anstellte?

    Herzlichst,
    Barbara

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    1. Ja, das ist richtig. Sowohl, dass das Buch von grausamen Dingen erzählt, als auch, dass das Zitat aus dem Gespräch zwischen Thomasius und Annas Voigt stammt. Zu finden auf Seite 85. Es gibt viele interessante, nachdenkenswerte Zitate in diesem Buch. Vielen Dank für den Kommentar und viele Grüße

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