„Die Zeit der Finsternis ist angebrochen.“
Der Vater bringt seinen Sohn in den Wald. Die Wälder in Litauen sind riesig. Doch nur drei Meter tief und vier Meter breit ist das Loch, in dem sich Janek verstecken soll. Krieg herrscht. Die Twardowskis hoffen, dass wenigstens ihr jüngster Sohn diese grausame Zeit überlebt. Es ist September, der Winter nicht weit. „Nichts Wichtiges stirbt“, sagt der Vater zuletzt zu seinem Kind. Der Junge ist gerade mal 14 Jahre alt.
PReisgekröntes Debüt
Krieg mit all seiner brachialen Gewalt und Zerstörung trifft Kinder auf besonders grausame Weise. Romain Kacew (1914-1980) wird geboren im Jahr, in dem der Erste Weltkrieg ausbricht. Im Zweiten Weltkrieg ist der gebürtige Litauer und Sohn einer jüdischen Familie unter dem Namen Romain Gary Pilot bei den Freien Französischen Streitkräften. 1945 – da hat er schon einige Kurzgeschichten und Erzählungen veröffentlicht – erscheint sein Romandebüt „Europäische Erziehung“, für das er mit dem Prix des Critiques ausgezeichnet wird. Weitere renommierte Preise werden folgen sowie ein wechselvolles Leben als Regisseur, Übersetzer und Diplomat mit tragischem Abschluss.

In den vergangenen Jahren erschienen Garys Romane in deutscher Übertragung in verschiedenen Verlagen, so zuletzt unter anderem auch „Die Jagd nach dem Blau“ und „Du hast das Leben vor Dir“ (beide Rotpunktverlag). Nun kann sein Erstling in deutscher Übersetzung dank dem Verlag Klaus Wagenbach und der Neuübersetzung von Birgit Kirberg (wieder)entdeckt werden. Ein Roman, der vom Schrecken und der Grausamkeit des Krieges erzählt, ohne die Menschlichkeit und die Kraft der Kultur zu vergessen.
Bunt gemischter Haufen
„Europäische Erziehung“ führt den Leser in die Tiefen der litauischen Wälder. Janek harrt aus, bis er auf die sogenannten Waldler, eine Gruppe Partisanen, stößt, denen er sich anschließt. Er weiß noch nicht, dass er da der einzige Überlebende seiner Familie ist. Die Partisanen leisten wie in anderen europäischen Ländern auch in Litauen Widerstand gegen die deutschen Besatzer. Sie sprengen Brücken, stehlen der Wehrmacht Waffen und Sprengstoff. Die Partisanen, die versteckt in Höhlen hausen, sind ein bunt gemischter Haufen, die aus verschiedenen Grüppchen bestehen. Auch Polen, Ukrainer und Juden haben sich angeschlossen. Janek, der Karl May liest, sich Old Shatterhand nennt, unternimmt zu Beginn Botengänge ins nahe gelegene Vilnius, wird später an gefährlichen Missionen teilnehmen. Bei einem Attentat wird er seine kindliche Unschuld verlieren.
„Er schien zu jung für alles, außer für Hunger, Kälte und Gewehrkugeln.“
Eines Tages begegnet Janek Zosia, beide werden später ein Paar, leben zusammen im Erdloch. Janek lernt den Tod und Verlust kennen und wie dieser Krieg die Menschen auffrisst, ein Leben in Sekunden ein Ende bereiten kann. Auch das der Jungen: Ein musikalisches Wunderkind, das Janek in die Gruppe holt, überlebt die Kälte nicht. Die Partisanen hoffen auf das Ende des Krieges, die Nachrichten aus Stalingrad bestärken sie darin.
In diesen dunklen Zeiten gibt die Musik und die Geschichten, die der Student Adam Dobranski in ein Schulheft schreibt und der Gruppe allabendlich vorliest, dem Leben etwas Lebenswertes – und etwas Hoffnung. Passagen aus Rudyard Kiplings „Einfache Geschichte aus den Hügeln“ und Puschkins Märchen finden sich genauso wie selbst geschriebene Geschichten. Die Texte sind in die Handlung eingebettet. Sie bereichern den Roman, verleihen ihm eine weitere literarische Ebene – und geben ihm seinen Namen. Dobranski will sein Buch „Europäische Erziehung“ nennen.
„Und immer wenn Janek Musik hörte, oder wenn Dobranski sein Schulheft aufschlug, um ihnen eine seiner Geschichten vorzulesen, in denen von menschlicher Courage die Rede war, wurde er merkwürdig sorglos, ja beinahe heiter, als hätte ihn ein Hauch der Unsterblichkeit gestreift.“
Garys Roman erzählt von Gemeinschaft und Liebe, aber auch von Verrat und Denunziation. Nicht nur die Deutschen, auch Kollaborateure zählen zu den Feinden der Partisanen. Nicht wenige machen mit den Besatzern Geschäfte, nicht wenige unterstützten die Deutschen damals bei der Verfolgung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung.
„Europäische Erziehung“ ist ein großer Anti-Kriegs-Roman und zugleich eine dramatische und ergreifende Coming-of-Age-Geschichte. Der Held ist zwar längst kein Kind mehr, der Krieg tobte bereits, seine Brüder waren schon tot, doch erst im Wald und ohne Familie lernt er ein auf das Nötigste reduzierte und stets existenzbedrohte Leben kennen, das für ihn zu einer Schule wurde. Neben den vielen Schicksalen endet Garys Debüt mit einem kleinen Happy End – das neben der Liebe zur Musik und Literatur wohl einzig Tröstliche in diesem Buch.
Weitere Besprechungen auf den Blogs „Buch-Haltung“, „Booknerds“ und „Literatur-Blog“
Romain Gary: „Europäische Erziehung“, erschienen im Verlag Klaus Wagenbach, in der Übersetzung aus dem Französischen von Birgit Kirberg; 224 Seiten, 24 Euro
Foto von Sigita Danil auf Unsplash


Ein Kommentar zu „Romain Gary – „Europäische Erziehung““