Klippenfall – Antje Ravic Strubel "Sturz der Tage in die Nacht"

„Man sieht Menschen nicht immer gleich alles an. Man sieht es vor allem nicht, wenn das, was man sehen müsste, die eigene Vorstellungskraft übersteigt.“

Während seine Freunde als Bagpacker an das andere Ende der großen Welt reisen, reist Erik auf die kleine Insel. Hoch oben, im Norden, mitten in der Ostsee, abgeschieden vom Rest der Welt liegt sie. Naturparadies, Schutzgebiet, Heimat unzähliger Vögel. Erik sucht seinen Weg, will neu anfangen, etwas neues studieren. Er legt eine Pause ein zwischen den Lebensetappen und findet auf dem kleinen schwedischen Eiland nahe Gotland Inez, die Ornithologin. Aus einem Tagesausflug wird für den jungen Mann ein Sommer. Erik bleibt mit Hilfe von Inez, die ihn als Praktikanten einstellt, denn eigentlich dürfen Inselgäste nur eine begrenzte Zeit bleiben.
Zwischen beiden beginnt eine Beziehung unter Beobachtung. Denn Rainer Feldberg, der mit der selben Fähre wie Erik auf die Insel gekommen war, überwacht das seltsame Pärchen. Und keiner der beiden ahnt, dass mit dem nebulösen Mann nicht nur ein unbequemer Zeitgenosse angekommen ist, sondern die Vergangenheit schlechthin.

Denn Inez und Rainer kennen sich. Rückblick: Es sind die 80er Jahre. Inez ist gerade mal 16, als sie Felix Ton kennenlernt, ein Freund Rainers. Während ihre Eltern dem DDR-Sozialismus kritisch gegenüberstehen, hat sich Felix, der in Berlin studiert, von der Stasi anwerben lassen. Als Inez jedoch schwanger wird, lässt er sie ihm Stich. Sie bringt das Kind zur Welt und gibt es mit Hilfe von Rainer zur Adoption frei, auch er ist Teil der „Firma“. Jahre nach der Wende hofft Felix auf eine politische Karriere, natürlich reingewaschen von seiner Vergangenheit. Nur sein unbekannter Sohn spielt in diesem Drängen in die ersten Reihen eine Rolle. Feldberg baut für Ton eine sympathische Legende auf: Er, der verlassene Vater, der seinen Sohn sucht. Beide Männer agieren ohne Gewissensbisse, nur auf den eigenen Vorteil bedacht.

Und hier beginnt der neueste Roman von Antje Ravic Strubel „Sturz der Tage in die Nacht“ sich von einem Liebesroman in romantischer Landschaft in ein erschütterndes Buch der Vergangenheitsbewältigung zu wandeln, das zeigt, welche Schicksalsfäden durch andere gesponnen werden können. Denn Inez und Erik sind nicht nur ein Paar, sie sind auch Mutter und Sohn, ohne es indes zu wissen. Die Erkenntnis, die mit Hilfe eines alten Fotos entsteht, erschreckt beide ins Mark. Schlimmer noch: Feldberg hat über Jahre Erik und seine Adoptionseltern beschattet und soll nach all den Jahren den verlorenen geglaubten Sohn für Ton zurückbringen.  

Erzählt wird die Handlung auf verschiedenen Zeitebenen und aus verschiedenen Perspektiven, eingangs berichtet Erik, der sich auf der Fähre zum Festland befindet, rückblickend von den Ereignissen. Strubels Roman ist ein gewaltiges Werk. Nicht nur, dass sie sich mit dieser Ödipus-Geschichte an ein Tabu-Thema wagt. Sie spinnt auf magische Weise und wortgewaltig-poetisch die Fäden zwischen den verschiedenen Lebensläufen. Inmitten des kleinen Personenensembles ragt Inez heraus, eine Frau, die stets ihren Weg gegangen, aufgestanden ist, wenn sie gefallen war, und nun zurückgezogen auf dem kargen Eiland inmitten des Meeres lebt. Die besondere Eigenschaft der Lummen, einer Vogelart, die auf der Insel lebt, zieht sich als Metapher durch den ganzen Roman: die Jungtiere fallen von den Klippen. Auch Erik steht schließlich dort oben, 60 Meter über dem Meer… Die unzähligen Gesichter und Stimmungen des Meeres und die besondere Naturlandschaft, abgeschottet vom Festland, verleiht dem Roman eine weitere besondere Facette. Poesie zeigt dort ihren Glanz, wenn die kleinsten Bestandteile der Wirklichkeit beschrieben werden, für die die meisten kein Auge, kein Bewusstsein haben.  

Bücher über die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit hat es in den letzten Jahren einige gegeben – Tellkamps „Turm“, Runges „In den Zeiten des abnehmenden Lichts“. Strubels Roman unterscheidet sich jedoch von beiden. Er bringt ans Licht, wie lang der Arm der Schattenrepublik reicht, nicht nur weit in eine andere Zeit und an andere Orte. Sie packt auch andere Generationen, die die DDR nicht bewusst erlebt haben. Erik war noch ein Kind, als die Mauer fiel.

Der Roman „Sturz der Tage in die Nacht“  von Antje Ravic Strubel erschien im August 2011 im S. Fischer Verlag.

448 Seiten, 19,95 Euro

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