„Zerbrechlich zu sein, kann tatsächlich eine Voraussetzung dafür sein, dass man stark ist.“
Zwischen dem Geschmack der Zimtbirnen, den ersten Gläsern mit Obstbranntwein, den unbeschwerten Diskussionen über Mädchen und Poesie im Heizungskeller und dem Jetzt liegen 50 Jahre. Er schaut zurück, der ergraute Professor für Philosophie, der zwischen seiner alten Heimat Schweden und seiner Wirkungsstätte in Oxford Landesgrenzen und ein Meer gelegt hat. Und da ist natürlich Frau Sorgedahl, deren Namen und ihre schönen weißen Armen den Titel für den Roman von Lars Gustafsson geben.
Es ist Sommer 1954. Der 17-jährige Erzähler lernt Frau Sorgedahl kennen, aus einem italienischen Kanton der Schweiz stammend. Zusammen mit ihrem recht „langweiligen Mann“ hat die Ingenieurin Quartier in jenem Haus bezogen, das einst dem Bruder der Großmutter des Erzählers gehörte, in dem zuvor der Vater des Freundes Folke wohnte. Das Haus in der ostschwedischen Industriestadt Västerås wird das Paradies genannt. Hier findet sich die Clique rund um den Erzähler ein. Bei Frau Sorgedahl wird Schnaps getrunken, Mahler-Sinfonien gelauscht. Doch die Dame wird für den jungen Mann, der das Gymnasium in der Stadt besucht, zur großen, wenn auch kurzen Liebe. Ein Begegnung der beiden findet im Bett ihr Ziel. Doch sie ist nicht die einzige, mit der der Erzähler die ersten Erfahrungen macht: Auf der Ferieninsel macht er Bekanntschaft mit einem gleichaltrigen Mädchen. Trotz ihres unterschiedlichen Alters haben beide Frauen eine Gemeinsamkeit: Beide verlassen den Jungen, prägen ihn fortan.
Dabei sind es nicht nur die erotischen Erlebnisse, die diesen Roman des Schweden zu einem Lesefest werden lassen. In diesem recht schmalen Büchlein verbirgt sich eine große Weisheit. Gustafsson ist Lyriker und Philosoph und damit ein großer Denker, der unglaublich weise über das Leben und die Zeit, Liebe und Abschied, die Jugend und das Altern fabuliert. Eine wage Vermutung: Vielleicht schaut der Autor selbst auf seine Jugend zurück, die er übrigens wie sein Protagonist in Västerås verlebte. Oftmals sind Erinnerungsromane autobiografisch gefärbt.
Mit sehr stimmungsvollen, poetisch beschriebenen Bilder beschwört er die Zeit der 50-er Jahre herauf, in denen noch Deckchen die runden Sofalehnen zierten, in Schweden nahezu nur Volvos auf den Straßen zu sehen, kleine Fotos in der Größe sechs mal neun Zentimeter Standard waren. Seine „Erinnerungshelfer“ sind eben jene alten Aufnahmen sowie ein Sekretär, den der Erzähler mit nach England genommen hatte. Eine Abfolge von Fotografien, gar ein Schwarz-Weiß-Film entstehen im Kopf des Lesers, der ob der verlorenen Liebe mitfühlt, sich amüsiert über den Streich, den die Jungen einem ungeliebten Lehrer spielen. Oberstudienrat Slipsten fand sich später in der Irrenanstalt wieder.
Gustafsson spinnt indes den Zeitfaden weiter in die Vergangenheit, lässt seinen Helden von der frommen Großmutter erzählen, den Ereignissen, die dessen Mutter prägten. Das Besondere ist Teil des Alltags, das noch spätere Generationen formt. Was die skandinavische Literatur speziell ausmacht, findet sich auch hier. Gustafsson verbindet das Ernste, die Tragik des Lebens mit einem ungemeinen Humor und einer Lebensfreude. Zwischen den melancholischen Szenen findet sich immer wieder das Heitere. Zusammen bilden sie eine Weisheit, die sowohl Herz als auch den Kopf reich beschenkt.
Der Roman „Frau Sorgedahls schöne weiße Arme“ von Lars Gustafsson erschien zuletzt im Fischer Taschenbuch Verlag in der Übersetzung aus dem Schwedischen von Verena Reichel.
240 Seiten, 9,99 Euro