Maler auf Abwegen – Carsten Jensen "Rasmussens letzte Reise"

„Man kann sich für neue Wege entscheiden. Aber man kann sich nicht entscheiden, sich inspirieren zu lassen.“ 

Noch einmal setzt er seinen Fuß auf ein Schiff gen Norden. Zwanzig Jahre nach seiner ersten Grönlandreise wagt Carl Rasmussen erneut die Tour ins ewige Eis. Diesmal auf der „Peru“, diesmal als erfahrener Marinemaler. Zurückbleiben seine Frau Anna Egidia und die acht Kinder, das kleinste: Klara mit vier Jahren. Man schreibt das Jahr 1893. Noch einmal will Rasmussen die Kraft des Eises und der weiten Landschaft spüren, noch einmal seinem Leben eine Wende geben, wie vor 20 Jahren. Damals kam er mit Werken zurück, die seinen Ruf als bedeutender Kunstmaler bekräftigt haben.Während Künstlerkollegen den Süden als Inspirationsquelle suchten, ging Rasmussen schon damals einen anderen Weg. Wie eigentlich sein ganzes Leben lang, dem sich der Däne Carsten Jensen in seinem Roman „Rasmussens letzte Reise“ widmet.

Schon als Kind ist Rasmussen irgendwie anders. Statt wie andere Kinder die Gegend unsicher zu machen, entdeckt er die ihm umgebene Landschaft und die Einwohner seiner Heimatstadt Ærøskøbing mit Farbe und Pinsel oder auch nur mit dem Skizzenblock. Hinrichsen, ein gut situierter Bürger, der später wegen Betruges eine mehrjährigen Gefängnisstrafe absitzen muss, erkennt das Talent des Jungen, während dessen Eltern allen voran sein Vater, ein einfacher Schneidermeister, von alledem nichts wissen wollen. Hinrichsen unterstützt Rasmussen, gibt ihm Malutensilien und bestärkt ihn. Doch als Hinrichsen Pleite die ganze Stadt erfasst, verlässt Rasmussen die Heimat und geht in die große Stadt Kopenhagen, um Geld zu verdienen, später um die Dänische Kunstakademie zu besuchen. Wohnen soll er bei seiner Tante und ihren drei Töchtern. Zwei von ihnen werden sein kommendes Leben prägen: seine spätere Frau Anna Egidia und Henrietta, seine Verlobte, die während seiner ersten Grönland-Reise jedoch verstarb.

Die Tragik des Künstlers, den es wirklich gegeben hat, nimmt hier seinen Lauf. Sie ist allerdings nicht nur an schicksalhafte Ereignisse gebunden. Vielmehr liegt sie in der Person des Mannes selbst. Ja, er hat Ruhm und ist damit durchaus in der finanziellen Lage, seine vielköpfige Familie zu ernähren, gar ein selbst entworfenes Haus zu bauen, aber der Selbstzweifel an seiner Kunst und den eigenen Fähigkeiten wird ihn ein Leben lang begleiten. Denn Rasmussen hat sich einer Kunst verschrieben, die sich den hässlichen Seiten des Lebens verschließt. Kunst soll abbilden und den Menschen erbauen, ihn nicht erschüttern, so seine Meinung, die er der Zeit jedoch anzweifelt. Vor allem während seiner Reisen nach Grönland.

Carsten Jensen, in Deutschland bekannt geworden durch seinen Bestseller „Wir Ertrunkenen“, schafft es auch mit diesem indes weitaus schmaleren Band ein spannendes Werk vorzulegen. Jensen ist ein Erzähler von Format, dem es gelingt, wie ein Maler Szenen und das Äußere einer Personen detailgenau oder in ihren herausragenden Merkmalen festzuhalten – allerdings nicht mit Farbe, sondern mit Worten. Mit seinem Helden Rasmussen entwirft er einen plastischen und vielschichtigen  Charakter. Die Beschreibung seines Innenlebens steht der Inszenierung der Kulisse in nichts nach. Jensen entwirft im Gegenzug mit Rasmussens Ehefrau eine Lichtgestalt, die nach dem Tod ihres Mannes zu ihrer inneren Stärke findet, die als eine Art Entwurf jedoch schon zu Lebenszeiten ihres Mannes in ihr geschlummert hatte.

Wie im Roman „Wir Ertrunkenen“ setzt Jensen auf jenen mehr als 350 Seiten einem besonderen Protagonisten ein Denkmal: dem Meer, das sich in seiner Urgewalt und Widerspenstigkeit sich dem Menschen entgegenstellt und immer wieder Opfer verlangt. So vereint der Roman über den dänischen Marinemaler zahlreiche Facetten, die zusammengenommen ein ungemein spannendes und zugleich intelligentes Werk ergeben. Oft stößt der Leser an Passagen, die Fragen sowohl der Kunst als auch denen des Lebens stellen. „Rasmussens letzte Reise“ ist historischer Roman und zugleich Entwicklungs- und Künstlerroman in einem, der reich ist an Themen, eindrucksvollen Personen und einer poetischen, sowohl kraftvollen als auch sensiblen Sprache – ein Alleskönner schlichtweg, dem man uneingeschränkt empfehlen kann und sollte.

„Rasmussens letzte Reise“  von Carsten Jensen erschien als Taschenbuch im btb-Verlag in der Übersetzung aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg. (Originaltitel: „Sidste rejse“)
352 Seiten, 9,99 Euro

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