Mit einem Schuss aus dem Revolver begrüßt der zwölfjährige Louis Armstrong das neue Jahr 1913. Die Polizei befördert ihn daraufhin in die Besserungsanstalt. Schlimm möchte man meinen. Doch der kleine Louis bekommt dort eine Trompete in die Hand gedrückt. What a wonderful world. A star is born. Arthur Schnitzler ist es in jenem Jahr schon, seine erotischen Werke machen von sich reden. Am Nachmittag des Silvestertages liest er Ricarda Huchs „Der große Krieg in Deutschland“. Ein Prophezeiung!
Ein Jahr geht zu Ende, das noch einmal die Kraft und das Feuer der Moderne in sich trägt, auf das aber zugleich der Schatten des Schreckens fällt. Beides weiß der Autor von „Generation Golf“ und Feuilleton-Chef der „Zeit“, Florian Illies, in seinem kürzlich erschienenen Buch mit dem kurzen, aber prägnanten Titel „1913“ zu vereinen und noch viel mehr. Wer dieses etwas mehr als 300-seitige Werk liest, glaubt mehr als Dutzend Biografien, Imterpretationen bekannter Werke und den Wetterbericht der damaligen Tage vor sich haben. Alles trifft sich in den nach den einzelnen Monaten benannten Kapiteln: die großen Künstler von Picasso, Franz Marc und Kandinsky bis zu den Vertretern der Gruppe „Die Brücke“, die großen Literaten wie die Manns, Gottfried Benn, Georg Trakl, Elske Lasker-Schüler, Robert Musil und nicht zu vergessen Franz Kafka sowie jene Namen, die Europa und die Welt an den Abgrund führen: Stalin, Hitler und Tito.
Dabei ist es immer wieder erstaunlich, wie Lebensläufe sich verknüpfen, welche Netzwerke es damals schon gab – Ehen und Liebschaften wurden so geschlossen – und dass es Orte gab, an denen die großen Namen zusammenkommen, ohne voneinander zu wissen. Hitler und Stalin in Wien, James Joyce und Kafka in Triest. Das Schicksal lässt ihre Kinder blinde Kuh spielen.
Illies hat nicht nur aufwendig recherchiert – im Anhang findet sich eine Auswahlbibliografie. Er weiß mit den unzähligen Daten und Fakten, den Ereignissen der Lebensläufe ohne Mühen umzugehen. Den Überblick über seine prominenten „Schäfchen“ verliert er nie. Man kann eine sichere Wette darauf eingehen, dass jede Geschichte ein Ende erhält: ob der Diebstahl der Mona Lisa oder die Flucht von Ernst Jünger auf den schwarzen Kontinent. Und nicht nur das bringt unendliches Lesevergnügen. Illies schreibt virtuos und bildhaft besondere Anekdote, beschreibt mit liebevoller Ironie (ja, das gibt es auch) die oft schwierigen Charaktere der Künstler, ihre Marotten wie auch ihr übersensibles, oft kränkliches und selbstbemitleidendes, aber immer in ihrem Schaffen strebsames Wesen. Um das 100 Jahre zurückliegende Jahr noch näher an den Leser zu rücken, schreibt Illies ausschließlich im Präsens.
Am Ende ist man unendlich traurig, dass die Zeit, dieses auf den ersten Blick unscheinbare, aber an Ereignissen reiche Jahr so schnell vergangen ist. Noch einmal blättert man durch die Monate, sieht die Fotografien und Kunstwerke am Anfang jedes Kapitels, liest bekannte Namen der Welt-, Literatur- und Kunstgeschichte und wünscht sich still und leise das Rad der Zeit zurückdrehen zu können, um Kafka im Café oder Rilke im Ostseebad Heiligendamm am Strand spazieren zu sehen und nur einige wenige Erlebnisse aus diesem doch so reichen Jahr 1913 selbst erleben zu können.
„1913 – Der Sommer des Jahrhunderts“ von Florian Illies erschien im S. Fischer Verlag.
320 Seiten, 19,99 Euro