Auf den Spuren der Geschichte – Geert Mak "In Europa"

Reisen bildet. Wer eine Reise macht, hat viel zu erzählen. Viele Redewendungen ranken sich um das Reisen. Die beiden oben genannten treffen dabei voll und ganz auf ein besonderes Werk zu: auf das Werk „In Europa“ von Geert Mak. Der Titel ist dabei treffender Verweis auf das spezielle Projekt des holländischen Publizisten. Im Jahr 1999 reiste er durch Europa, unzählige Orte  in vielen Ländern besuchte er, mit zahlreichen Zeitzeugen kam er ins Gespräch. Sein Ziel: die Spuren der Geschichte des 20. Jahrhunderts finden. Mak, unterwegs mit der Bahn, mit einem Wohnmobil oder Flugzeug, verknüpft dabei seine Erlebnisse mit den wichtigsten historischen Ereignissen sowie politischen und gesellschaftlichen Strömungen auf dem Kontinent. Das Wien als Hauptstadt der Doppelmonarchie Österreich und Ungarn ist ebenso Ziel wie das Berlin zu Beginn des Dritten Reiches.

Mak sucht die Schlachtfelder von Verdun und Stalingrad genauso auf wie Auschwitz-Birkenau – Orte von Tod, Vernichtung und unmenschlichem Leid, von dem jüngere Generationen heute nahezu nur aus dem Geschichtsbuch und aus Filmen erfahren. Die Zeitzeugen schwinden mit den Jahren. Während die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts von den beiden Weltkriegen und dem Kampf zwischen Kommunismus, Sozialismus und Faschismus geprägt ist, bestimmen hingegen Machtwechsel in Südeuropa, das Aufbegehren der Jugend, der Zusammenbruch des Sozialismus sowie der verheerende Krieg auf dem Balkan die zweite Hälfte.

Was bleibt nach all den Jahren? Nicht immer stößt Mak bei seiner Reise und den Recherchen in Bibliotheken, Museen und Archiven auf nennenswerte Spuren. Oft hat jedoch die Zeit den Ort gänzlich verändert. Oft gerät das einstige Geschehen sogar in Vergessenheit oder wurde im Laufe der Jahre auch falsch überliefert, widmet sich womöglich das Gedenken einem falschen Menschenkreis. Unauslöschbar erscheinen hingegen die Spuren des Krieges: Munition, die bis heute gefunden wird, verschwundene historisch gewachsene Stadtkerne. Wichtig erscheinen da die Stimmen der Zeitzeugen, die im Buch an zahlreichen Stellen zu Wort kommen und ihre Sicht auf die Ereignisse vermitteln; dazu zählt unter anderem auch der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker. Auch Tagebücher bekannter Persönlichkeiten dienen dem Holländer als Quelle.

Es ist dabei erstaunlich, wie Mak das erlebte Jetzt mit der Vergangenheit verknüpft. Von dem Fluss des Erzählens – mal reportagehaft, mal essayistisch – lässt der Leser sich wunderbar tragen. Niemals verliert man die Übersicht – trotz vieler Zahlen, trotz vieler Informationen auf mehr als 900 Seiten, an denen sich im Anhang zudem ein umfangreiches Literaturverzeichnis anschließt. Und nicht nur darin liegt diese Stärke dieses Meisterwerkes. Der Autor vergisst neben dem Blick auf die großen Fragen und Figuren der Geschichte nicht die kleinen Schicksale am Rande und schafft zudem Porträts der einzelnen Länder. Gerade dadurch wird Geschichte nicht nur nachvollziehbar, sondern bleibt vor allem spannend. Wenn ein Buch sowohl lehrhaft und unterhaltend als auch bewegend ist, ist es eine unvergessliche Lektüre für die Ewigkeit.

„In Europa“ von Geert Mak erschien als Paperback im Pantheon-Verlag, aus dem Holländischen übersetzt von Andreas Ecke und Gregor Seferens.
944 Seiten, 16,99 Euro

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