
Das Leben zieht seine Bahn, füllt den Alltag mit Menschen und Dingen, Begegnungen und Erlebnissen. Nach dem ersten Kind folgt das zweite. Die Stadt wird verlassen, um in eine andere zu ziehen. Freundschaften verstärken sich oder werden gebrochen. Auch wenn dieser Lauf für viele bekannt erscheint, nichts Spannenderes zum Erzählen gibt es. Einer beweist es: der Norweger Karl Ove Knausgård. Sein auf sechs Bände angelegtes Romanprojekt „Min kamp“ feiert Erfolge – nicht nur in seinem nordischen Heimatland. Mittlerweile soll das Virus auch den Rest Europas und Teile Amerikas befallen haben. Nach dem ersten Band „Sterben“, wo der Autor vor allem den Tod seines alkoholabhängigen Vaters in den Mittelpunkt stellt, ist vor einiger Zeit der zweite Band „Lieben“ als Taschenbuch erschienen.
Hier widmet sich Knausgård seiner eigenen Familie, seinen drei kleinen Kindern Vanja, Heidi und John sowie seiner Frau Linda, die ebenfalls schreibt. Neben den ganz alltäglichen Dingen wie Windelwechseln, Füttern und den mehr oder weniger erfolgreichen Besuchen in der Kita oder auf Kindergeburtstagen erzählt der Norweger über den Kontrast zwischen dem Familienalltag und dem Leben eines Schriftstellers, der für Höheres berufen ist – auch wenn nicht jedes Werk von jedem Leser beziehungsweise Kritiker gemocht wird. Für Knausgård ist dies ein selbst gewählter Kampf. Nicht immer stößt er auf Gegenliebe bei seiner Frau, wenn er für sich Zeit zum Lesen und Schreiben einfordert. Trotz regelmäßiger teils heftiger Auseinandersetzungen die Beziehung erweist sich als besonders fest und robust, vor allem die schwere Geburt des ersten Kindes, der kleinen Vanja, bindet Mann und Frau eng aneinander.
Als Ich-Erzähler lässt Knausgård kaum eine Einzelheit aus. Er berichtet sehr kleinteilig und genau über den Tagesablauf, fokussiert seinen Blick auf die umgebende Landschaft, bemerkt sehr sensibel besondere Stimmungen, seien es die seiner Frau, seiner Freunde oder seiner Mutter. Auch der Stadt Stockholm, in der das Paar mehrere Jahre lebt und wo Knausgård an seinem ersten erfolgreichen Roman „Alles hat seine Zeit“ (2004) schreibt, mit dem er die Beachtung der norwegischen Literaturszene schließlich auf sich lenkt, widmet er sich mittels Beschreibungen von Vierteln und Straßenzügen recht ausführlich. Raum füllen auch seine Betrachtungen auf berühmte Autoren und Klassiker, seine Meinung zu Schriftsteller-Kollegen. Eine Fundgrube an interessanten Gedanken bieten auch die langen und intensiven Gespräche mit seinem Freund Geir, der ebenfalls aus Norwegen stammt und in Stockholm lebt und schreibt.
Sein auf sich als Mann, Vater und Schriftsteller gerichtetes Erzählen wird von einigen als egozentrische Nabelschau kritisiert. Andere zollen seinem großen Werk viel Respekt ab. Doch es ist nicht nur diese Idee, sein eigenes Dasein authentisch wie möglich zu beschreiben und zu hinterfragen und dieses Erzählen mit Reflexionen über die großen Themen des Lebens zu verbinden, die Hochachtung verlangen sollte. Es ist der besondere Erzählstil, der einen unweigerlich an diese dickleibige Lektüre bindet. Wer sich in die ersten Seiten vertieft hat, wird so schnell nicht wieder auftauchen. Dieses so detaillierte wie faktenreiche sowie teils philosophische Erzählen bringt den eigenen Alltag durcheinander, weil man seine Umwelt schlichtweg vergisst. Man sollte kein Essen auf dem Herd oder ein Besuch bei Freunden geplant haben – schnell könnte dies in Vergessenheit geraten. Denn es langweilt nie, auch wenn Knausgård zum x-ten Male erzählt, dass die kleine Vanja schreit oder er sich angesichts des zermürbenden und stressigen Alltags als dreifacher Familienvater zurück in seine Schreib-Höhle sehnt.
Denn das Schreiben ist der andere Teil des Lebens, der seine Aufmerksamkeit verlangt und wie ein ungeduldiges Kind am Vater/Schöpfer zerrt. Gerade in dieser eigenen Erkenntnis wird die Seele des Autors deutlich. Der nicht schreibt, weil er es kann, sondern weil er es muss. Auch darüber berichtet im Übrigen Knausgård wie sonst keiner.
„Lieben“ von Karl Ove Knausgård erschien bereits als Taschenbuch im btb-Verlag, in der Übersetzung aus dem Norwegischen von Paul Berf.
768 Seiten, 12,99 Euro