Wenn der Bruder der Vater ist – David Gilbert "Was aus uns wird"

„Doch manchmal ertappe ich mich selbst dabei, grundlos und unerwartet glücklich zu sein, durch ein besonderes Licht am Spätnachmittag zum Beispiel oder ein Lied, das ich im Vorübergehen höre. Einen schönen Spaziergang um den Bootsweiher. Dichtes Schneetreiben. Kurze Momente, in denen Zeit und Raum zusammenspielen, um mir eine Freude zu bereiten.“

Das Leben hält oft so manche Überraschung bereit. Daran ist jedoch nicht das Leben schuld. Es sind vielmehr wir Menschen, die Geheimnisse verbergen, die dann aber mit der Zeit sich klammheimlich ans Tageslicht kommt. Oder wir erzählen unserer Familie oder Freunde nicht von den großen Ereignissen unseres Lebens, weil wir inmitten des Lebens voneinander getrennt werden. Andy ist solch eine Überraschung. Von seinen Stiefbrüdern Richard und Jamie als Bruder kaum anerkannt und gemocht, ist der 17-Jährige hingegen ein ganz anderer – ohne dass er es selbst weiß. Der Junge ist der Klon seines Vaters, Andrew oder A.N. Dyer, ein bekannter Schriftsteller, der vor allem mit seinem Roman „Ampersand“ noch immer die Regale in Buchläden und heimischen Wohnstuben füllt, als Klassiker im Unterricht gelesen wird.

Liest man nur diese Zeilen, glaubt man an eine merkwürdige und vielleicht auch absurde Idee des Amerikaners David Gilbert für seinen Roman „Was aus uns wird“. Liest man vielmehr den gesamten Roman, schätzt man das Buch aus ganz anderen Gründen. Aber was heißt hier eigentlich lesen – es ist etwas anderes, was da mit einem geschieht, wenn man sich dem mehr als 600-seitigen Werk widmet. Formulieren wir es an dieser Stelle mal ein wenig flapsig: Man ist einfach drin. Doch warum?

„Was aus uns wird“ ist allgemein gesagt eine Familiengeschichte. Im Mittelpunkt stehen die Dyers und die Toppings. Den späteren erfolgreichen Schriftsteller Andrew Dyer und Charles Topping verband einst in der Kindheit eine enge Freundschaft, die sich im Buch vor allem an den liebevoll geschriebenen Briefen zeigt, die sich die beiden Jungen regelmäßig zugeschickt haben. Der Tod von Charles und sein Begräbnis bringen die beiden Familien wieder zusammen, die sich mit den Jahren auseinandergelebt hatten. Die Gründe für sowohl diese Verbundenheit aber auch diese Distanz werden im Roman nach und nach erzählt. Denn vor allem der prominente Autor hat einiges zu verbergen – und nicht nur die Herkunft seines dritten „Sohnes“ Andy. Doch das soll der geneigte Leser selbst erfahren.

Nach Charles Ableben macht sich auch Andrew Gedanken über seinen eigenen, womöglich nahen Tod. Er beruft deshalb seine Söhne Richard und Jamie ein, um ihnen die wahre Herkunft von Andy zu „beichten“, die er einst unter dem Deckmantel einer Affäre verheimlicht hatte und die ihm schließlich die Scheidung sowie ein recht einsames und zurückgezogenes Leben einbrachte. Doch seine Söhne zeigen sich von der Nachricht, dass ihr Stiefbruder vielmehr das genetische Pendant ihres Vaters ist, nicht wirklich geschockt, haben sie doch ganz andere Pläne mit dem besonderen Familientreffen. Richard, einst Junkie, hat einen Deal ausgemacht, um ganz groß als Drehbuchautor herauszukommen. Dafür braucht er jedoch das Manuskript des legendären Romans „Ampersand“. Jamie hat hingegen schon Ruhm erlangt, nachdem er ein besonderes Video seiner ersten Freundin Sylvia gedreht hat, das sie beim Sterben und nach dem Tod zeigt.

All diese Randgeschichten lenken nicht von der eigentlichen Rahmenhandlung ab. Vielmehr bereichern sie den Roman, der Raum bietet für ein farbenprächtiges Panorama zweier Familien und ihrer Mitglieder. Und dabei darf einer nicht vergessen werden: Philipp Topping, Sohn von Charles. Er ist ein gescheiterter Grundschullehrer und Familienvater sowie der Erzähler der Geschichte. David Gilbert gelingt es, nicht nur Philipps Berichte mit den verschiedenen Schicksalen der Protagonisten dank Rückblenden zu verbinden. Er bindet zudem Passagen aus „Ampersand“, Briefe von Charles und Andrew sowie ein wunderschönes Märchen über den Mond des Mondes, den Mondmond, in seinen Roman ein. Daraus entsteht ein einzigartiger vielstimmiger wie vielschichtiger Text, der mit ungemein lebendigen Dialogen, weisen Gedanken und komischen fast slapstick-haften Szenen aufwartet, aber den Leser am Schluss mit einem schrecklichen Unfall vor allem sehr berührt. Am Ende war man selbst Teil im Leben zweier Familien, Besucher in der faszinierenden Stadt New York, hat dort Literaturliebhaber wie auch schrullige Filmleute kennengelernt sowie überkandidelte Mitglieder der kulturellen upper-class mal kurz aus der Ferne bestaunen können.

Der Roman „Was aus uns wird“ von David Gilbert erschien im Eichborn-Verlag, in der Übersetzung aus dem Amerikanischen von Stefanie Schäfer.
639 Seiten, 22,99 Euro

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