„Irgendwo bei Lada musste es so etwas auch geben, ein Rohr, aus dem klein gestückelt all das schoss, was sie vorn aus den Büchern in sich hineinfraß.“
Hoch hinaus reckt sie sich in den Himmel. Und jedes Jahr kommt ein Stückchen hinzu. Die hölzerne Hofstange ist das Wahrzeichen von Pildau. Ein verträumtes Gehöft, das etwas abseits liegt und für den sechsjährigen Jasper Honigbrod das Zuhause ist. Hier wohnt er gemeinsam mit Vater Max und dem Großvater. Während der eine tagtäglich dem Sohn eine Guten-Morgen-Geschichte über den Großwesir und den Reiseritter Robert erzählt und sich anschließend in seine riesige Stallbibliothek verdrückt, kümmert sich der Ältere der drei Generationen um den Garten und die Schleie, die im Weiher unsichtbar ihre Runden zieht. Pildau ist jedoch nicht nur ein Ort merkwürdiger Begebenheiten und Bräuche. Besondere Geschichten ranken sich um die Bewohner, die eines Tages plötzlich Zuwachs bekommen. Denn Autor Max Scharnigg lässt seine drei männlichen Schützlinge im Roman „Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau“ nicht allein. Jaspers Vater bringt von einem seiner traditionellen Lauf-Ausflüge in die Umgebung ein Geschöpf mit auf den Hof, das nicht nur rote Haare hat, sondern auch ein Mädchen ist. Der Grund für diesen mysteriösen Fund sei an dieser Stelle indes nicht verraten – nur so viel, es ist ein tragischer. Für Jasper ist das Mädchen jedoch eine Art Herausforderung. Denn Frauen gibt es bis auf die Lene-Mama, die nicht die richtige Mutter ist und nur unregelmäßig auf dem Hof auftaucht, sonst nicht. Aus vielerlei Gründen, die sich in der Vergangenheit der Opis, wie Jasper seinen Vater und Großvater nennt, finden. Doch mit der Zeit verschwindet der Argwohn gegenüber dem Kind, das anders und seiner Zeit voraus ist, und eine besondere Form der Zuneigung entsteht.
Dabei wird nicht nur vom Alltag auf dem abgelegenen Hof erzählt, wo die Zeit stehengeblieben zu sein scheint und das Leben ein anderes ist als auf dem nahegelegenen Dorf. Der Erzähler – später wird deutlich, wer er ist – blickt in einem zweiten Erzählstrang zurück und berichtet vom Leben des Großvaters als Ingenieur, der sich im Krieg vor dem Wehrdienst versteckt hält und eine später erfolgreiche Erntemaschine baut, sowie vom Vater Max, der nach Jahren in England und Jahren als erfolgreicher Wissenschaftler, wieder nach Pildau zurückkehrt war. Nach und nach werden die besonderen Beziehungen der Pildauer aufgedeckt, ihre Erlebnisse und Erfahrungen, die sie gezeichnet haben – im guten wie im tragischen Sinne.
Denn Scharnigg, 1980 in München geboren und bereits mehrfach für seine Werke mit Preisen geehrt, schlägt nach der beschwingten und heiteren Stimmung, die zu Beginn ein wenig an ein heiteres Märchen erinnert und mitreißt, melancholische Töne an, die einen sehr berühren. Die Geschichten in der Geschichte erzählen von Abschied und Wiederbegegnung, von Krankheit und Tod, vom bitteren Los eines begabten Außenseiters, Fehlentscheidungen und von Zeiten, in denen der Mensch dem Lauf der Geschichte ausgeliefert ist, um später sein Leben wieder in die Hand zu nehmen, eigene Entscheidungen zu fällen. Das Heranwachsen Jaspers erinnert an den Lauf eines Entwicklungsromans. Für mehrere Jahre wird der Leser zum Begleiter des Jungen sowie des Mädchens Lada und erlebt die Rituale auf dem Hof, die sich am Tagesrhythmus und dem Lauf der Jahreszeiten orientieren.
Wie der Autor diesen magischen Ort voller Bücher und Geschichten und seine besonderen Bewohner voller Poesie gestaltet und zum Leben erweckt, verblüfft und nimmt den Leser von der ersten bis zur letzten Seite für diesen bezaubernden und ungewöhnlichen Roman ein. Vor allem die Warmherzigkeit und Hingabe zu seinen Geschöpfen und ihren Lebensgeschichten ist eine kostbare literarische Erfahrung, die man sehr selten macht. Bei jeder dramatischen Wendung möchte man deshalb den Autor bei den Schultern packen und kräftig durchrütteln, weil die traurigsten Szenen zu sehr schmerzen. Man leidet mit, weil man zu einem Teil dieses Pildauer Universums wird, nahezu so, als ob man Zuhörer der Guten-Morgen-Geschichte wird oder auch mal den Großvater im Garten hilft. Am Ende kommt der große Paukenschlag, der einen heftig mitnimmt, weil die Familie zu einem Teil von einem selbst geworden ist.
Der Roman „Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau“ von Max Scharnigg erschien im Heyne Verlag.
304 Seiten, 9,99 Euro