Tod im Park – Friedrich Ani „Der namenlose Tag“

„Manche Menschen wollen nicht erkannt werden; wir sitzen ihnen gegenüber und glauben, sie zu kennen, aber wir sehen nur das, was sie anhaben, und hören nur das, was sie sagen, wir haben keine Ahnung, wie sie nackt aussehen oder ob sie weinen, wenn sie allein sind. Wir lassen uns nur allzu gern täuschen; vielleicht, weil wir sonst nicht weiterleben könnten vor lauter Hilflosigkeit.“

Die Vergangenheit holt Jakob Franck ein. Zwei Monate, nachdem der Kommissar in den Ruhestand gegangen ist, erhält er einen Anruf von Ludwig Winther. Seine Tochter wurde vor 20 Jahren an einem 14. Februar erhängt an einem Baum im Park gefunden. Damals hatte Franck die Todesbotschaft der Mutter überbracht. Die Polizei ging in ihren Ermittlungen von Suizid aus. Der Vater glaubt an Mord. Franck beginnt, den Fall neu aufzurollen und stößt in die Abgründe der menschlichen Seele vor. 

Es ist literarisch gesehen Francks erster Fall. Nach 19 Romanen mit dem legendären Kommissar Tabor Süden und den zwei weit kürzeren Reihen rund um die Polizisten Polonius Fischer  und Jonas Vogel schuf der bereits mehrfach ausgezeichnete Schriftsteller Friedrich Ani mit Franck eine neue Gestalt; die ähnlich markant ist und spezielle Eigenschaften aufweist. Der Münchner Ex-Kommissar hat eine besondere Methode, Zeugen zu befragen und die Ermittlungen voranzutreiben. Die Methode wird im Buch als Gedankenfühligkeit beschrieben. In Interviews zeigt sich der Polizist als feinfühliger und sehr konzentrierter Gesprächspartner, der auf den ersten Blick recht unspektakuläre Informationen herausbekommt, die für den weiteren Verlauf der Arbeit indes sehr entscheidend sein können. Außerdem war Franck in den letzten Monaten seiner Laufbahn als spezieller Botschafter unterwegs – er hat Hinterbliebenen die Nachricht vom Tod ihres Angehörigen übermittelt und sie in dieser Zeit wie ein heutiger Notfallseelsorger auch schon einmal auf besondere Weise betreut. Doris Winther, die Mutter der verstorbenen Esther, hatte er damals mehrere Stunden im Arm gehalten.

Franck beginnt, in Eigeninitiative den Fall neu aufzurollen. Allerdings ohne die übermäßig große Hilfe seiner Ex-Kollegen, die den Fall zu den Akten gelegt haben. Francks ermittelt mit Gesprächen. Er besucht in Berlin die Schwester von Doris Winther, die sich ein Jahr nach dem Tod ihrer 17-jährigen Tochter schließlich selbst getötet hat, während ihr Mann über eine lange Zeit im Alkohol versank. Der Ex-Kommissar unterhält sich mit einstigen Mitschülern, die mehr oder weniger fest mit beiden Beinen im Leben stehen. Und er nimmt Kontakt auf zur Familie des Zahnarztes Jordan. Denn Winther äußert einen ungeheuerlichen Verdacht: Jordan soll ein Verhältnis mit Esther gehabt haben. Doch auch der Vater kommt ins Visier des Ermittlers, als Mitschüler berichten, dass Esther behauptet habe, von ihrem Vater missbraucht worden zu sein. Auch die Zeugin, die damals die Leiche im Park entdeckt hatte, wird befragt.

„Die Aufklärung eines Mordes oder zwielichtiges Todes bedeutete, dass ein Kommissar das Recht hatte, die Welt des Menschen, der gewaltsam gestorben war, von Grund auf zu erschüttern und deren Bewohnern so lange mit unnachgiebiger Genauigkeit ihre Gewohnheiten zu entreißen, bis sie nackt in der Kälte standen und sich ihrer Erbärmlichkeit bewusst wurden.“

Nach und nach setzt sich das Bild der Familie zusammen, in der nichts ist, wie es scheint. Viele Geheimnisse existieren. Eine aufrichtige und ehrliche Kommunikation zwischen den beiden Ehepartnern und ihrem Kind ist nahezu gänzlich zum Erliegen gekommen.Vielmehr regiert eine leise aggressive Stimmung, durch Vorwürfe und Selbstvorwürfe, Missverständnisse und Lügen, Verdächtigungen und Gerüchte entstanden. Die Mutter führt heimlich ein Tagebuch und scheint belastet durch die schwierige Beziehung zu ihrer Schwester und zur Mutter zu sein. Die Tochter streut Gerüchte, weil sie unzufrieden ist und ihr Leben auch wegen der bescheidenen finanziellen Verhältnisse der Eltern nicht wirklich in vollen Zügen genießen kann. Mit seinen Gesprächen wird Franck zu einem Archäologen. Nicht nur dringt er Schicht für Schicht zu der für den Leser sicherlich überraschenden Todesursache vor. Der Kommissar a.D. wird auch nach und nach die einzelnen Personen und ihre Charaktere, ihre Rolle in diesem ganzen Spiel, erkennen.


Auch die Person Francks steht im Mittelpunkt. Er weist dabei einige Gemeinsamkeiten mit Winther auf, beiden haben sich in die Einsamkeit zurückgezogen. Franck nach der Scheidung von seiner Frau. Und beide werden gequält von Erinnerungen. Alte Tötungsdelikte, auch eines, das eng mit dem Fall Esther zusammenhängt, lassen ihn nicht los.

Tod und die Trauer sind die großen Themen dieses tiefsinnigen wie spannenden Romans, obwohl „nur“ ein recht alter Fall für Rätsel sorgt. Wie schafft ein Mensch, ein neues Leben zu beginnen, wenn enge Vertraute nicht mehr existieren? Wie gelingt es einem Polizisten, sich von schwierigen Fällen aus der Vergangenheit zu lösen? Wie verarbeitet man als Angehöriger einen Suizid eines geliebten Menschen? Welche Rolle spielen Schuld und Schuldgefühle? All das sind Fragen, die der Roman aufwerfen kann.

Wenn ein Kriminalroman weit mehr Gedanken auslösen kann, als nur die bekannten Ratespiele, um als Leser dem Täter selbst auf die Spur zu kommen, ist er mehr als nur ein Krimi. Anis neuester Streich, der vor allem durch seine Monologe und Dialoge, auch mit durchaus unüblichen Umfang, und seine leisen, präzise gesetzten Zwischentönen herausragt, zählt zu jener Kategorie, von denen es nur wenige Vertreter gibt. Jene Romane mit einer oft melancholischen Note haben ihre ganz eigene Welt und rücken nur scheinbar  die Suche nach dem Täter in den Fokus. Ihre Aufgabe ist eine ganze andere und eine weit anspruchsvollere: Sie wollen uns vielmehr einen Spiegel vorhalten, der die ungeahnten Abgründe und Dramen des wahren Lebens und uns Menschen abbildet. Aber womöglich haben wir Angst, in diesen Spiegel zu schauen, weil wir uns womöglich selbst erkennen würden.

Der Roman „Der namenlose Tag“ von Friedrich Ani erschien im Suhrkamp Verlag; 301 Seiten, 19,95 Euro

Foto: marco stricker/pixelio.de

6 Kommentare zu „Tod im Park – Friedrich Ani „Der namenlose Tag“

  1. Liebe Constanze,
    ich habe noch keinen Friedrich-Ani-Krimi gelesen (was ich schon immer wollte, aber es kam auch immer wieder etwas dazwischen), aber nun bin ich fest entschlossen. Am Wochenende lobte die SZ schon den Roman, nun kommt Deine „Lobeshymne“ noch dazu, sodass ich schon ganz nuegierig bin auf die besondere Gesprächsführung, die Schichten, die der Kommissar abschält, um an die „Wahrheit“ zu kommen. Vielen Dank für Deine schöne Einstimmung.
    Viele Grüße, ClaudiA

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    1. Vielen Dank, Claudia, für deine Zeilen. Ich kenne zwei Romane rund um den Kommissar Tabor Süden. Ich mag Anis anspruchsvoller Stil, der hinter die Dinge schauen will. Deshalb beschäftigen seine Romane den Leser auch mehr als andere Vertreter des Krimi-Genres. Viele Grüße

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  2. Immer wenn ich irgendwo etwas über Frederic Ani lese, denke ich, du musst dir unbedingt was von ihm besorgen … und dann vergesse ich es wieder. Diesmal nicht, ich werde gleich die entsprechende Order rausgeben.

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