„Und es gab kein Bedürfnis, keine Sorge mehr – nicht in jenem Augenblick. Alles würde neu werden. Alle müden Wanderer würden ihr Ziel der Ruhe und Versöhnung erreichen. Das war immer die einzige Art, in der es enden würde.“
Es ist der letzte Wunsch seines Großvaters, der Alans Rückkehr in seine Heimatstadt Invermere bewirkt. Der Philosophie-Student lässt seine Doktorarbeit und seine Freundin Darby in der gemeinsamen Beziehungskrise zurück. Sein Großvater Cecil glaubt, nach einem Herzanfall vor dem baldigen Lebensende zu stehen. Seine Bitte: Alan soll seinen Vater Jack, Cecils Sohn, ausfindig machen. Doch dies ist alles andere als eine leichte Aufgabe. Nicht nur machen schwere Waldbrände in den Rocky Mountains die Fahrt in den Westen zu einem mehr als beschwerlichen Trip. Zwischen Jack und Cecil herrscht seit knapp 28 Jahren Funkstille – genauer gesagt: seit Alan auf der Welt ist.
Man ahnt schon zu Beginn des Romans „Als alles begann“, dass es in der Familie ein schwerwiegendes Zerwürfnis gegeben haben muss. Auch wenn die möglichen Gründe für den Leser noch in weiter Ferne liegen. Alans Vater verließ die Stadt, als sein Sohn noch sehr klein war. Die Mutter hatte sich schon vorher abgeseilt. So wuchs Alan bei dem Großvater auf, den er liebevoll Cramps nennt. Dem kanadischen Autor D.W. Wilson gelingt es in seinem Debüt-Roman auf eindrucksvolle Weise, die Spannung dieser besonderen Familiengeschichte bis zum Schluss aufrechtzuerhalten – dank mehrerer Familiengeheimnisse und Gefahren, die aus unterschiedlichen Richtungen kommen und für die Protagonisten eine nahezu lebensgefährliche Bedrohung darstellen.
Auf der einen Seite gibt es die verheerenden Waldbrände, die Straßen oftmals schwer passierbar, das Gebiet nahezu undurchdringlich machen. Alan, der sich mit dem Pick-up seines Großvaters auf die Suche nach seinem Vater Jack begibt, setzt in einer Szene, die an einen filmreifen Stunt erinnert, zu einem Sprung über eine Spalte an, die sich infolge der Dürre und der Hitze in der Straße gebildet hatte. Auf seiner Tour begleitet Archer, ein einstiger Freund seines Großvaters, sowie der Hund Puck den jungen Mann. Ein mehr als merkwürdiges Trio, das sich da auf dem Weg gemacht hat. Zumal der Hund nur drei Beine hat, Archer wegen seiner schweren Krebserkrankung im Rollstuhl sitzt. Zum ersten Erzähl-Strang, in dem Alan aus seiner Sicht über seine Erlebnisse berichtet, gesellt sich ein zweiter. Archer blickt auf jene Zeit in den 70er Jahren zurück, als er gemeinsam mit seiner Tochter Linnea aus den USA nach Kanada geflohen war, um nicht erneut als Soldat in den Vietnam-Krieg ziehen zu müssen. Er ist bereits gezeichnet – physisch durch Narben infolge des Napalm-Einsatzes, psychisch durch seine entsetzlichen Erlebnissen im Krieg und die Angst, nach seiner Desertation von Feldjägern aufgegriffen zu werden. Diese Bedrohung und die Gewalt des Menschen durch den Menschen zieht sich ebenso durch den ganzen Roman. Sowohl Archer erlebt Gewalt als auch Jack und Alan. Archer wird von Jack angeschossen, als er während seiner Flucht in den Wäldern einen sicheren Unterschlupf in der Hütte von Jacks Vater Cecil sucht. Jack wird von dem etwas älteren Crip, den es ebenfalls aus den USA nach Kanada verschlagen hat, nahezu krankenhausreif verprügelt. Der Nebenbuhler hat es ebenso auf Archers Tochter Linnea abgesehen und verfolgt Vater und Tochter systematisch. Alan wird schließlich während seine Tour Zeuge, wie Crip sein Leben lassen muss.
„Es gibt Momente im Leben, da lernen wir simultan eine große Wahrheit über einen anderen Menschen und eine große Wahrheit über uns selbst – weniger Offenbarungen als vielmehr Dinge, die wir bis zu einem bestimmten Zeitpunkt geleugnet haben.“
Mit der Suche nach Alans Vater erfährt nicht nur der Leser das ganze Ausmaß der Familiengeschichte. Auch Alan deckt nach und nach, mit jeder Begegnung, mit jedem Gespräch die Geheimnisse auf. Wer seine Mutter ist, warum seine Eltern ihn nicht aufgezogen haben, welche Rolle Archer spielt. Die Reise in den Westen ist zugleich eine Reise in die Vergangenheit, die viele Tragödien zutage bringt und einige tragische Geschehnisse erst auslöst, so einen Unfall sowie Mord.
Wilsons Debüt-Roman erstaunt nicht nur durch seine Dramatik, die bis zum Schluss bestehen bleibt und es sehr schwer macht, das Buch zuzuklappen. Die Sprache ist an einigen Stellen etwas ruppig und rau, um wenig später jedoch einen wunderbaren Sinn für leisen Humor sowie Herz und Einfühlungsvermögen für die Gefühle und Gedanken der Protagonisten zu beweisen. Diese sind vielschichtig, wenig berechenbar und offenbaren einen starken Charakter wie auch persönliche Schwächen. Gerade die fehlende Kommunikation zwischen den Generationen und den beiden einstigen Freunden Cecil und Archer sowie ein gewisses Maß an Sturheit haben erst dieses Auseinanderdriften der Familie ermöglicht, Kälte ja auch Gleichgültigkeit und Hass verursacht. Das Ende wird teils offen gelassen. Nicht alles geklärt, was womöglich der Leser zu wissen erhofft.
Der 1985 geborene Autor hat bereits vor diesem Debüt Lob und Anerkennung erhalten. Für eine Erzählung bekam er den BBC Short Story Award. Man sollte Wilsons Schaffen also im Augen behalten, sich auf kommende Werke freuen. Denn sein Roman „Als alles begann“ ist ein herausragendes Buch über Liebe und Freundschaft, Abschied und Endlichkeit sowie die mit Schwierigkeiten behaftete Beziehung zwischen Vater und Sohn. Wieder einmal erstaunt es, welche literarische Perlen nördlich der USA, wo viele große Namen zu Hause sind, entstehen.
Der Roman „Als alles begann“ von D.W. Wilson erschien im Deutschen Taschenbuch Verlag, in der Übersetzung aus dem Englischen von Eike Schönfeld; 368 Seiten, 16,90 Euro
Foto: pixabay.com
Danke für die Empfehlung — das hört sich nach einem Buch an, das mir gut gefallen könnte!
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