Verurteilt – Hannah Kent „Das Seelenhaus“

„Zu wissen, was eine Person getan hat, und zu wissen, wer ein Mensch ist, sind zwei ganz verschiedene Dinge.“

Das Wort Urteil hat zwei verschiedene Bedeutungen. Es beschreibt sowohl die Entscheidung eines Gerichts als auch die Meinung, die ein Mensch von einem anderen hat. Mit beiden Varianten beschäftigt sich der Roman „Das Seelenhaus“ der australischen Autorin Hannah Kent. Ihr Debüt führt in das Island des 19. Jahrhunderts und in das Leben einer besonderen Frau.

Die Geschichte der Agnes Magnusdottir ist voller Tragik – von ihrer traurigen Kindheit bis hin zu ihrem allzu frühen Tod – und ihr Leben ist real gewesen. Sie war in Island die letzte Person, die hingerichtet wurde. Sie wurde wegen Mordes und Brandstiftung verurteilt und am 12. Januar 1830 mit dem Mitangeklagten Fridrik Sigurdsson geköpft. Hannah Kent erinnert nun an sie. Ein längerer Aufenthalt auf der Insel während eines Schüleraustauschs und langjährige Recherchen in Kirchenregistern, heimatkundlichen Büchern und Gemeindearchiven bildeten die Grundlage für ihr Werk, das man nicht nur mit Blick auf die aufwendigen Vorbereitungen außerordentlich bezeichnen kann.

Das Geschehen beginnt mit dem Besuch des Landrats Björn Blöndal auf dem Kornsáhof. Hier im Norden des Landes lebt das Ehepaar Jon und Margret mit ihren beiden Töchtern Steina und Lauga. Die Familie erhält die Aufforderung, die zum Tode Verurteilte Agnes aufzunehmen und zu versorgen. Als Dienstmann muss Jon diesem Gebot Folge leisten, obwohl sich die ganze Familie gegen die Aufnahme der „Teufelin“, wie Agnes genannt wird, vehement sträubt. Selbst als sie sehen, wie verletzt, schmutzig und in Ketten gefangen Agnes aus ihrem ersten Gefängnis, dem Stora-Borg-Hof, zu ihnen kommt. Für das christliches Seelenheil der Frau soll der noch junge und unerfahrene Pfarrvikar Thorvardur Jónsson kümmern. In ihren gemeinsamen intensiven Gesprächen erhält Thorvardur nach und nach Einblicke in das Leben von Agnes, die als kleines Kind von ihrer Mutter verlassen wurde, in einer Pflegefamilie aufwuchs und als Jugendliche und junge Frau als Magd von Hof zu Hof zog. In jenen Zeit war Island von der Landwirtschaft und dem Fischfang geprägt. Das Leben war für die meisten Menschen hart und entbehrungsreich. Hinzu kommt das raue Klima im Norden, das auch immer wieder Todesopfer forderte. In Hungerzeiten gab es auch schon einmal Leder zu essen. Die wenigsten hatten Glas in den Fenstern, vielmehr wurde getrocknete Fisch- oder Schafsblase verwendet.

Mit der Zeit gewöhnt sich Jons Familie an Agnes, entsteht auch ein gewisses Vertrauen, indem sich auch Vorurteile zerschlagen, die das Bild der Verurteilten, das die Menschen haben, verfälschten. Vor allem Steina und ihre Mutter Margret schätzen mit der Zeit die Arbeit und das stille und kluge Wesen von Agnes, die zudem ihr wertvolles Wissen als Kräuterfrau in Notlagen und Krankheiten anwenden kann. Diese besondere Kenntnisse hat sie in der Zeit von Natan sammeln können, der mit einem weiteren Mann in jener unheilvollen Nacht auf seinem Hof Illugastadir getötet wurde. Nach und nach erfährt die Familie die wahre Geschichte, die sich zuerst als eine Geschichte der Zuneigung zwischen Agnes und Natan erweist, später jedoch offenbart, dass Agnes Geliebter, ein Heiler wie Schürzenjäger, indes mit falschen Karten gespielt und dies zur Eskalation geführt hat.

„Das wär’s dann wohl. Der Kornsáhof. Mein letzter grimmiger Fleck. Mein letztes Bett, mein letztes Dach, mein letzter Boden. Diese ganze Letztlichkeit erfüllt mich mit einem spitzen Schmerz, als bliebe nichts mehr übrig, nur der Rauch verlassener Feuer.“

Das Geschehen wird aus verschiedenen Perspektiven berichtet. Denn auch Agnes wird zur Erzählerin. Auszüge aus Original-Dokumenten wie Briefen und Gerichtspapieren sind in die Handlung eingebettet und geben interessante Informationen zum Fall. Zusammen erzeugen sie eine Spannung, auch wenn gewiss ist, wie das Buch enden wird. Der Tod ist allgegenwärtig. Die Zeit verrinnt gnadenlos. Was indessen in diesen wenigen Monaten entsteht, ist Menschlichkeit. Die Familie erkennt, dass die in der Gesellschaft geäußerten Vorurteile und Beschimpfungen nicht begründet und ungerecht sind.  All die großen Themen Leben und Tod, Liebe und Freundschaft, aber auch Glauben und Irrglauben – Mythen und die Welt der Sagas spielen eine wesentliche Rolle – behandelt dieser herausragende Roman auf eindrucksvolle Weise.

Kent gelingt es, vor allem in den Dialogen diese Themen auf kluge Weise zu behandeln und darin auch den Personen ein vielschichtiges Wesen zu verleihen, ihre gemeinsame Vergangenheit offen zu legen. Denn Agnes, der Pfarrvikar sowie die beiden Schwestern kennen sich aus früheren Begegnungen. Wie die Autorin zudem jene historische Zeit vor den Augen des Lesers entstehen lässt, die widrigen Lebensumstände in das Zentrum stellt, um schließlich als Kontrast poetisch auch die herbe Schönheit dieses Landes zu beschreiben, hat mich ungemein begeistert. Mit ihrem Erstling stand die Autorin auf den Bestsellerlisten ihres Heimatlandes und England. Außerdem wurde sie dafür mit dem Australia Unpublished Manuscript Award ausgezeichnet.

Man sollte sich mit Blick auf die deutsche Ausgabe indes nicht von dem Cover-Bild, das eine Frau in einem schwarzen Kleid und mit einem schwarzen Balken über den Augen zeigt, abschrecken lassen. Ja, der Roman ist ein raues und düsteres Buch. Doch es berührt und beweist zugleich, dass Menschlichkeit auch an Orten herrscht, wo man diese kaum zu finden hofft.

Der Roman „Das Seelenhaus“ von Hannah Kent erschien bereits als Taschenbuch im Droemer Verlag, in der Übersetzung aus dem australischen Englisch von Leonie von Reppert-Bismarck und Thomas Rütten; 384 Seiten, 9,99 Euro

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