Stadtleben – Nellja Veremej „Berlin liegt im Osten“

„Wie fühlt es sich an, wenn die Welt, in die du geboren wurdest, wie eine Nussschale mit dir zusammen wächst, kränkelt, reift, altert?

Zwischen ihrer Heimat am Kaukasus und Berlin liegen Tausende von Kilometern, einige Jahre sowie unerfüllte Hoffnungen und Wünsche.  Lena hat Sprachwissenschaft studiert und arbeitet in Deutschland für einen Pflegedienst. Ihre Kollegen – eine Art proletarische Internationale – stammen aus aller Herren Länder und verschiedenen anderen Professionen. Ihre große Liebe zu ihrem Mann Schura, mit dem sie in der Zeit des politischen Umbruches nach Deutschland gekommen war, ist mittlerweile erloschen. Sie und die gemeinsame Tochter Marina sind Überreste einer kleinen Familie, die nahe dem Alexanderplatz wohnen. Ihre täglichen Wege führen Lena in die Tiefen der Großstadt und die Wohnungen der Klienten, die interessante Lebensgeschichten erzählen können.

BerlinEs sind diese tiefe Einblicke mit Herz und Empathie in die Biografien von Menschen, die aus dem Debüt der russischen Autorin Nellja Veremej mit dem Titel „Berlin liegt im Osten“ ein reiches und warmherziges Buch werden lassen. Denn die Ich-Erzählerin Lena, die ihre Erlebnisse und Erinnerungen aus ihrer persönlichen Perspektive schildert, findet einen besonderen Zugang zu den älteren Menschen. Günter Struck, Bewohner eines Appartement-Hauses für Senioren und ehemaliger Schlosser, denkt zurück an die Zeit des Zweiten Weltkrieges. Sie geht mit ihm einkaufen, schneidet ihm auch schon mal die Fingernägel. Liebevoll begrüßt er sie mit: „Herein, meene Kleene!“. Eines Tages ist er tot. Die Tannenzweige, die Lena auf Wunsch von Herrn Struck gekauft hatte, kommen zu spät. Ulf Seitz lebt ebenfalls allein. In der DDR hat er als Journalist gearbeitet, mit der Wende wurde er in Frührente geschickt. Zu ihm baut Lena eine enge Beziehung auf, die allerdings keine wirkliche Liebe, sondern vielmehr ein Mehr an freundschaftlicher Zuneigung ist. Gemeinsam feiern sie Weihnachten, gemeinsam haben sie zuvor die Zutaten für das festliche Essen eingekauft; darunter auch Krim-Sekt und Kaviar.

Ihre Heimat Russland hat Lena nie völlig abstreifen können. Noch immer ist sie gezeichnet, dazu tragen auch die jährlichen Besuche der Mutter bei, das Nachdenken über Gemeinsamkeiten und Unterschiede beider Kulturen, zwischen West und Ost. So steht auch das Leben Lenas im Mittelpunkt, die zurückblickt – auf die Kindheit, die Jugend, das Philologie-Studium in Leningrad, die spätere Ausreise nach Deutschland. Jene Lebensgeschichten der Klienten und die der Ich-Erzählerin haben durchaus Parallelen und verweben sich. Denn nicht nur der interessierte Blick in die verschiedenen Biografien zeichnet diesen Roman aus, sondern auch die Verbindung des Menschen mit gesellschaftlichen und politischen Veränderungen, aus denen später Geschichte wird. Ein Thema, das die Schriftsteller bekanntlich seit jeher beschäftigt. Lenas Vorfahren haben wie die beiden Senioren das Grauen des Zweiten Weltkriegs erlebt. Lenas Großvater kehrte nach vielen Jahren aus Australien nach Russland zurück, die Herren Struck und Seitz wurden Zeugen des Krieges, in dem große Teile Berlins in Schutt und Asche gelegt wurden. Lena und Seitz erlebten ein halbes Jahrhundert später die politische Wende – jeweils in ihrem Land. Zwischen beiden entsteht jedoch eine gewisse Distanz, als sie eine Beziehung mit dem Anästhesisten Roman beginnt und dadurch Seitz aus den Augen und aus dem Sinn verliert. Obwohl sie nicht nur das Pflegerin-Klienten-Verhältnis verbindet, sondern beide auch tragische Ereignisse in der Familie erlebt haben. Zudem entdeckt sie in dessen Wohnung einen der großen Berlin-Romane, Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“, 1929 im Verlag S. Fischer erschienen, indem im Übrigen kein Geringerer als Seitz‘ Vater Eingang gefunden haben soll. Auf das Werk und den Helden Franz Biberkopf stößt der Leser an so einigen Stellen.

„Und wer sind deine Eltern? – Meine Frage ist nicht rhetorisch, ich interessiere mich tatsächlich brennend dafür, wie solche Menschen wie er zustande kommen, Menschen, die ihr Leben machen, und die nicht vom Leben gemacht werden wie ich.“

Was dieses Erstlingswerk vor allem so erstaunlich macht, ist die Tatsache, dass die Autorin keine deutsche Muttersprachlerin ist, aber eine Sprachgewandtheit, einen reichen Wortschatz und eine besondere Erzählgabe unter Beweis stellt, die in ihrer literarischen Einheit schlichtweg verblüffen. Aus der kurzen Biografie mit wichtigen Daten aus dem Leben von Nellja Veremej wird deutlich, dass der Roman autobiografisch geprägt sein könnte. Wie ihre Heldin studierte sie an der Leningrader Universität, seit Mitte der 90er Jahre lebt die Autorin in Berlin, wo sie auch als Altenpflegerin, Russisch-Lehrerin und Journalistin wirkt. Sie kennt also die große Stadt, die im Roman eine Sonderstellung einnimmt, nicht nur bloße Kulisse, sondern eben ein geschichtlicher Ort, ein Raum mit Millionen von Menschen und Biografien ist. Für Lena ist die Stadt trotz ihres Umfangs, ihrer Hektik ein Ort der Idylle, der viele Möglichkeiten des Rückzugs bietet.  

Mit ihrem Debüt stand Veremej 2013 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Sie erhielt später zudem die Förderpreise des Adelbert-von-Chamisso-Preises und des Heinrich-von-Hölderlin-Preises. Im Februar dieses Jahres ist ihr zweiter Roman  „Nach dem Sturm“ erschienen; ebenfalls eine Geschichte aus vielen Geschichten, wie es der österreichische Verlag Jung und Jung beschreibt. „Berlin liegt im Osten“ erzählt von den unerfüllten Lebenszielen und Fehlentscheidungen genauso wie von der Gabe, andere Wege folgend, ein Gefühl der Zufriedenheit zu empfinden und auch im unaufgeregten Alltag Großes zu entdecken. Mit Lena hat die Autorin eine spezielle Figur geschaffen, die dafür besonders sensibel erscheint. Welch Glück!

Der Roman „Berlin liegt im Osten“ von Nellja Veremej erschien in der gebundenen Ausgabe im Verlag Jung und Jung, als Taschenbuch im Aufbau-Verlag;  318 Seiten, 9,99 Euro

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