„Zufälle sind nicht anderes als Schicksal. und das Schicksal ist nicht mehr als eine Aneinanderreihung von Zufällen.“
Er galt als Kriegsheld, war erfolgreicher Immobilienhändler, einst sogar Handelsminister seines Landes. An einem Junitag wird Carl Oscar Krogh ermordet aufgefunden, seine mit unzähligen Messerstichen versehene Leiche lässt sogar eingefleischte Kriminalisten das Blut in den Adern gefrieren. Selbst Kommissar Tommy Bergmann sucht vorsorglich die Toilette des Hauses auf. Wer trachtete dem einstigen heroischen Widerstandskämpfer nach dem Leben? Bergmann stößt bei seinen Ermittlungen nicht nur auf Rätsel der Vergangenheit. Er ist sich auch sicher, dass der Fund dreier Skelette, die wenige Tage zuvor in der Nordmarka entdeckt worden waren, mit diesem Mord zu tun haben.
Der Roman „Der letzte Pilger“ des Norwegers Gard Sveen erzählt somit nicht nur einen Kriminalfall, der im Jahr 2003 angesiedelt ist. Sveen blickt in seinem Debüt zurück in die Zeit der deutschen Besatzung während des Zweiten Weltkrieges. Krogh gehörte einer Gruppe an, die mit Unterstützung des englischen Geheimdienstes aktiv war. Dazu zählt auch Kaj Holt, der einstige Anführer, auch Nummer eins genannt, der nach dem Krieg in Stockholm angeblich Selbstmord verübt haben soll. Als mysteriös an seinem Tod erscheint, dass der einstige schwedischer Ermittler, der diesen Fall auflösen soll, wenige Tage nach der Entdeckung der Leiche ermordet wird. Auch eine Frau gehört der Widerstandsbewegung an: Agnes Gerner, die vom Geheimdienst in die Nazi-Szene eingeschleust wird. Eine bildschöne und kluge Agentin, die den Männern reihenweise den Kopf verdreht – probates Mittel, um an geheime Informationen zu gelangen. So wird sie schließlich die Geliebte, spätere Verlobte von Gustav Lande, der eine zentrale Figur in Norwegen spielt und als Unternehmer mit den Nazis paktiert. Eines der drei, 60 Jahre nach dem Krieg gefundenen Skelette soll nach ersten Erkenntnissen das von Agnes sein. Auch ein Kind zählt zu den Toten, die vermutlich bei einer Liquidierung im Herbst 1942 gestorben waren.
Bergmann trifft während der Polizeiarbeit auf zwei Wissenschaftler, die das Leben und Wirken Kroghs sowie die norwegisch-englische Widerstandsbewegung erforscht haben, sowie auf die Hinterbliebenen von Krogh und Holt. Dafür reist er im Land umher, später auch nach Stockholm und Berlin. In der deutschen Hauptstadt begegnet er Peter Waldhorst, der während des Krieges in der Gestapo gedient hat. Obwohl nicht Chef einer Ermittlungsgruppe geht Bergmann oft eigene Wege. Er hat einen guten Spürsinn und viel Geduld, um nach und nach das Puzzle zusammensetzen. Im Job agil und erfolgreich, plagen ihn im Privaten indes Sorgen und Zweifel. Eine frühere langjährige Beziehung ist in die Brüche gegangen. Als Trainer einer Mädchen-Handball-Mannschaft sucht er Ablenkung. Sveen hat einen Ermittler mit Stärken und Schwächen geschaffen, doch kommt die Person Bergmanns den Leser nicht allzu nahe. Das ist an dieser Stelle nicht kritisch gemeint – vielmehr fokussiert sich der Blick damit eher auf die Geschichte.
Die Story fügt sich zu Beginn aus Szenen verschiedener Zeitebenen und Handlungsorte zusammen. Im Verlauf des Geschehens bilden sich zwei Handlungsstränge heraus: die Ermittlungsarbeit im Jahr 2003 und das Wirken von Agnes als Spionin, die als Geliebte von Krogh sowie Verlobte von Lande ein gefährliches Spiel treibt. Es ist dieser historische Hintergrund, der dem Roman seinen Stempel aufprägt und Tiefe verleiht. Sehr spezielle geschichtliche Themen werden erwähnt, die man in einem Kriminalroman so detailliert gar nicht vermutet hätte: Neben der norwegischen Widerstandsgruppe, Milorg genannt, spielen die Molybdän-Vorkommen Norwegens eine Rolle. Das Metall soll für die Rüstungsindustrie, vor allem die deutsche Panzerproduktion genutzt werden. Dass hochrangige Nazis ungeschoren blieben, sogar von den Alliierten mit einem Freischein ausgestattet und in den Westen geholt wurden, macht betroffen, ja traurig und wütend. In der Zeitebene der jüngsten Gegenwart finden sich indes eine Reihe gesellschaftskritische Hinweise; vor allem die Kluft zwischen Arm und Reich findet ihre Erwähnung: Die Tochter Holts lebt in ärmlichen Verhältnissen, während die Tochter Kroghs gut situiert und vermögend ist.
„Der letzte Pilger“ ist ein Roman, der nach der Schuld und der Verantwortung jedes Einzelnen fragt. Auf welcher Seite stehe ich in einem Krieg? Was bin ich bereit zu tun, um zu überleben? Sveen erhielt für sein Erstlingswerk 2013 den norwegischen Riverton-Preis und im Folgejahr den Glass Key Award als bester Krimi Skandinaviens. Im kommenden Frühjahr soll der zweite Fall von Bergmann erscheinen. Ist da ein neuer Stern am Krimihimmel im Aufstieg? Ich sage: Ja!
Der Kriminalroman „Der letzte Pilger“ von Gard Sveen erschien im List Verlag, in der Übersetzung aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob; 544 Seiten, 14,99 Euro
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Ein Kommentar zu „Verräter – Gard Sveen „Der letzte Pilger““