„Woher kam ihm plötzlich dieses Grauen?“
Der erste Eindruck entscheidet. Eine Wendung, die uns wohl ein Leben lang begleitet, die zugleich zeigt, welche Bedeutung dem Äußeren in unserer Gesellschaft beigemessen wird, obwohl diese allzu bekannten Worte nicht nur auf das äußere Erscheinungsbild, sondern auch auf das Verhalten eines Menschen anspielt. Es braucht nur wenig, um einen Menschen für den Blick anderer zu verändern; manchmal nur eine Brille. Im Fall von Lawrence Newman wandeln die Gläser, die er beginnt zu tragen, sein ganzes Leben. Der Personalchef eines großen New Yorker Unternehmens muss einen wirtschaftlichen, sozialen und privaten Absturz erfahren – weil er mit der Brille für einen Juden gehalten wird. In seinem einzigen Prosawerk „Fokus“, nun in einer prächtigen Ausgabe in der Edition Büchergilde erschienen, erzählt der große amerikanische Schriftsteller und Pulitzerpreisträger Arthur Miller diese beklemmende Geschichte über die verschiedenen Formen von Antisemitismus und Rassismus in seinem Land.
Das Buch erschien im Original 1945, also kurz vor oder nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, der etwa 65 Millionen Menschen das Leben nahm, darunter allein sechs Millionen Männer und Frauen und Kinder infolge des Holocaust, der systematischen Verfolgung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung in Deutschland und weiteren europäischen Länder. Wie es zu diesem beispiellosen, noch immer unbegreiflichen Verbrechen kommen konnte, ist weiterhin Thema der Geschichtsforschung. Ohne Zweifel bildete dafür der Antisemitismus, der Judenhass, die wichtigste Grundlage, der bereits seit Jahrhunderten existiert und nicht nur in Deutschland und Teilen Europas vorherrscht, sondern auch in den USA – dort jedoch zur damaligen Zeit in der Literatur tabusiert und totgeschwiegen, wie Miller in einem Vorwort zu seinem Werk ausführt. An einer Stelle heißt es dazu weiter: „Am Ende des Zweiten Weltkriegs war der Antisemitismus keine Privatsache mehr.“
Im Mittelpunkt des Geschehens steht Lawrence Newman, dessen Vorgesetzter ihm empfiehlt, sich eine Brille anzuschaffen. Gesagt getan, der Personalchef lässt sich beim Optiker wegen Sehproblemen eine Brille anfertigen. Sorgen Gestell und Gläser bei ihrem Träger für Unbehagen, löst der äußerlich veränderte Newman bei Kollegen, Nachbarn und Unbekannten, die er tagtäglich trifft, für überraschende Reaktionen aus: Er wird als Jude gehalten. Der Absturz mit fürchterlichen Konsequenzen ist vorprogrammiert. Erst verliert Newman seinen Job, dann die Freunde. Schließlich wird er in seinem Viertel ausgegrenzt und drangsaliert – seelisch wie körperlich. Der vor seinem Haus breitgestreute Müll aus seiner Mülltonne ist erst der Anfang. Selbst seine Frau Gertrud, die ihn permanent über ihr vorheriges Leben belügt, kann oder will ihm nicht aufrichtig zur Seite stehen, rät ihm sogar, sich einer judenfeindlichen Bewegung anzuschließen, die in ganz Amerika ihr Unwesen treibt.

Dabei ist Newman nicht unbedingt eine Sympathiegestalt, ganz im Gegenteil: Er ist ein verschrobener Einzelgänger, zu Beginn der Geschichte ohne Frau und ohne Familie, bei seiner Mutter lebend. Als er noch erfolgreicher Personalchef war, überwachte er durch ein großes Fenster die Stenotypistinnen im Großraumbüro des Unternehmens, in dem Hierarchie und Autorität eine wichtige Rolle spielen. Seine spätere Frau, die sich einst für einen Job in seiner Firma beworben hatte, demütigte er während des Vorstellungsgesprächs. Gegenüber Menschen anderer Hautfarbe, Religion oder aus fremden Ländern stammend hegt er Argwohn, gar Abneigung. Wenn diese in Bedrängnis kommen, schaut er zu, ohne einzuschreiten – bis er schließlich selbst zu einem Ausgegrenzten wird. So wie sich sein Verhältnis zu einem jüdischen Kaufmann im Viertel verändert, so ändert sich auch sein Blick auf die Menschen, die anders sind, und jene, die Fremde bewusst ins Abseits drängen und respektlos behandeln.
„Und es gab keine Wahrheit, die man dagegen einsetzen konnte. Es gab keine Worte, die es beruhigt hätten. Es war finsterer Wahnsinn, der weder bekämpft noch beschwichtigt werden konnte.“
Viele Themen und Szenen in diesem großartigen Roman können stellvertretend stehen für politische und gesellschaftliche Erscheinungen – nicht nur die der Geschichte, sondern auch jene der Gegenwart, so dass dieses Buch gerade auch in der aktuellen, gefühlt unruhigen Zeit Bedeutung besitzt. Miller, vor allem bekannt für seine Dramen wie „Der Tod des Handlunsgreisenden“ oder „Hexenjagd“, beschreibt sowohl die Entstehung einer rassistischen Bewegung, die aus Ängsten, Vorurteilen und Fremdenhass ihre Energie erhält, als auch die passive Taktik des feigen Wegschauens der anderen, die Verbrechen nicht nur dulden, sondern sicherlich erst ermöglichen. Eindrucksvoll wie beklemmend er die verschiedenen Abstufungen der negativen Gefühle – von der Verachtung und Feindseligkeit bis hin zu Hass und Abscheu – mit Worten und Szenen zeichnet, wie die bedrohliche Lage rund um Newman sich allmählich, Tag für Tag zuspitzt.
Doch diese neue Ausgabe des einzigen Werks Millers in Prosa, dessen dramatische Werke noch immer mit sehr viel Erfolg auf den Bühnen weltweit inszeniert werden, lebt und wirkt vor allem dank der 20 farbigen Holzschnitte der Leipzigerin Franziska Neubert, die ihre Arbeiten jedoch nicht als Illustrationen, sondern als Begleitung des Romans verstehen will. In einem Nachwort zur Ausgabe schreibt sie über die Besonderheit des künstlerischen Verfahrens, das sie verwendete. Gerade der Holzschnitt und der langwierige wie aufwendige Druckvorgang mit einer Farbe pro Tag sei für sie die perfekte Technik für diesen Text gewesen, erklärt sie. Nicht nur Schlüsselszenen des Romans hat die Künstlerin, Jahrgang 1977 und Studentin der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig sowie der École nationale supérieure des Arts Décoratifs Paris, bildhaft festgehalten. Auch Details oder beispielhafte Ansichten der Metropole, wie die Wolkenkratzer zur nächtlichen Stunde, einen Pulk Menschen vor der Tür der U-Bahn, finden sich in diesem Band, der Literatur und bildende Kunst auf beeindruckende Weise verbindet. Aktuell werden Werke von Franziska Neubert in der einstigen Fabrikanlage „Tapetenwerk“, heute ein Ort der Kunst und Kultur, sowie in der Buchhandlung Wörtersee in Leipzig öffentlich präsentiert.
Eine weitere Besprechung gibt es auf dem Blog „literaturleuchtet“.
Arthur Miller: „Fokus“, erschienen in der Edition Büchergilde, aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Doris Brehm, mit 20 Holzschnitten von Franziska Neubert; 280 Seiten, 24 Euro
Foto: pixabay
Ach wie schön! Das habe ich zum Geburtstag geschenkt bekommen!
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