Carsten Jensen „Der erste Stein“

„(…) Afghanistan ist eine Erdbebenzone, eine Herausforderung für die menschliche Vernunft.“

Wer über ein Land schreiben will, muss es bereisen. Carsten Jensen besuchte in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten mehrfach Afghanistan. Ein Aufenthalt führte den dänischen Autor 2009 in das Militärcamp Price in Helmand, im Süden des Landes an der Grenze zu Pakistan gelegen, wenig später verfolgte er ein Training dänischer Soldaten, die später in das von Krieg und Krisen geschüttelte Land entsendet werden sollten. Seine umfangreichen Recherchen, seine Informationen und Beobachtungen, mündeten schließlich in den Roman „Der erste Stein“, der über einen Zug dänischer Soldaten und ihre schrecklichen Erlebnisse erzählt.

Eine Spirale der Gewalt

Dabei ist „schrecklich“ nicht das richtige Worte, für das, was die Soldaten erfahren und erleiden. Vielleicht gibt es kein passendes Wort dafür. Aus einer weit entfernten Sicht, wie die des Lesers. Wer Gewaltszenen in Romanen nicht ertragen kann, sollte Abstand nehmen von Jensens Werk, denn es ist vom Anfang bis zum Ende schonungslos und unerbittlich. Detailreich, bildhaft und wiederkehrend finden sich Beschreibungen, die von grausamer Gewalt, Blut, schwerste Verletzung und Tod berichten. Bereits zu Beginn gerät der Zug aus 24 Männern und einer Frau, die im Camp Price in Nachbarschaft englischer Truppen und einer amerikanischen Eliteeinheit stationiert sind, in einen Hinterhalt. Zwei Soldaten sterben. Es ist der Anfang einer Spirale der Gewalt, die weder vor Soldaten noch vor der Zivilbevölkerung Halt macht. Sie verstärkt sich noch, als der charismatische Zugführer Rasmus, ein einstiger Videospiel-Entwickler, seine Einheit verrät, um ein blutiges und perfides Katz-und-Maus-Spiel mit seinen einstigen Kameraden zu beginnen. Ohne Rücksicht auf Verluste, ohne Rücksicht auf persönliche Beziehungen.

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Die Einheit sinnt auf Rache und begibt sich auf ihren eigenen Feldzug, der sie immer weiter ins Landesinnere und weg vom Camp führt. Mit jedem neuen „Schachzug“ zwischen Jägern und dem Gejagtem reduziert sich die Truppe. Unerbittlich haucht der Autor auch jenen Figuren das Leben aus, die der Leser womöglich ins Herz geschlossen hat. Denn nicht jeder Soldat sehnt sich schier kriegslüstern den Kämpfen entgegen, sondern hat eine gewisse Hoffnung, mit seinem Einsatz etwas Gutes zu tun. Doch Jensens Schilderungen der Zustände des Landes lassen Desillusionierung und Zweifel aufkommen, dass es jemals befriedet werden könnte. Das Land hat seine eigenen Gesetzte, seine eigenen Akteure. So schreibt Jensen über die Rolle der privaten Sicherheitsfirmen und der Warlords, mit denen sich unter anderem auch der Kommandant Steffensen des Zuges einlässt. Es sind nicht allein die berüchtigten Taliban und die fremden Streitkräfte, die in großen und kleinen Kämpfen und Auseinandersetzungen gegeneinander stehen. Jeder will in diesen Konflikten mitmischen – wegen Macht und gewinnbringender Geschäfte.

Hinterhalte und tödliche Minen

2004 begann die Beteiligung Dänemarks im Rahmen der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe (ISAF), der weitere Länder unter der Führung der Nato angehörten. Im Januar 2012 waren 50 Staaten mit 129 895 Soldaten im Einsatz. Gerade Kämpfe in der Provinz Helmand forderten Opfer unter den dänischen sowie britischen Soldaten. Jensen, 1952 geboren, gewährt in seinem aufwändig recherchierten, vielschichtigen und multiperspektivische Roman Einblicke in das Leben im Camp, teils in den privaten Hintergrund der einzelnen Soldaten. Nicht jeder ist ein ausgebildeter Soldat auf Lebenszeit, sondern übte vor dem Training im Heimatland einen ganz anderen Beruf aus. So war beispielsweise der Stellvertreter von Rasmus Sozialpädagoge. Dieser Krieg verändert unweigerlich die Psyche der Soldaten, die nicht nur in Hinterhalte geraten und auf tödliche Minen treten können. Sie werden zu Zeugen, wie Kameraden sterben, Kinder und Frauen zu Opfern werden. Vor allem die Rolle der Frau, die unter Unterdrückung und Einschüchterung, die seit jeher Folge von alten Regeln und Riten sind, leiden, beleuchtet Jensen. Es wundert deshalb nicht, dass mit Hannah eine Frau eine Schlüsselrolle innerhalb der Truppe, auf die später ein dänischer Geheimagent angesetzt wird, übernimmt.

„Er hat das Gefühl, als betrachtete er eine aufgewühlte Brandung, die lautlos gegen eine Felsenküste schlägt, oder einen Meeresboden, der aus unerklärlichen Ursachen nackt daliegt, vielleicht als Warnung vor einem kommenden Tsunami. Dieser nackte Meeresboden aus verletzten Körpern, das ist Afghanistan, ein Land, das in allen Richtungen wie eine unendliche Ebene aus Leid erscheint.“

Dass der Däne das Land intensiv und mehrfach bereist hat, wird in den eindrucksvollen Schilderungen von Land und Leute deutlich. Darin lässt er die Extreme der Landschaften aus Wüste und zerklüfteten Bergen, in denen sowohl bittere Kälte als auch schweißtreibende Hitze herrschen, vor den Augen des Lesers entstehen. Nach seinem erfolgreichen und viel gelobten Roman „Wir Ertrunkenen“ über die Menschen und das Meer hat Jensen ein Buch geschrieben, das ein ganz anderes Thema, einen ganz anderen Ort in den Mittelpunkt stellt, aber erneut Herausforderungen, denen sich Menschen stellen müssen, schildert; diesmal in einem Land, das noch immer für Schlagzeilen sorgt, dessen geschichtlichen wie gesellschaftlichen Hintergründe indes nur wenige kennen. So gibt der spannende und an überraschenden Wendungen reiche Roman „Der erste Stein“ eindrückliche Einblicke in ein Land, das seit Jahrzehnten zerrüttet ist, aber auch einen besonderen Charakter hat, der durch die zahlreichen Konflikte zerstört wird.


Carsten Jensen: „Der erste Stein“, erschienen im Knaus Verlag, als Taschenbuch-Ausgabe im Penguin Verlag, in der Übersetzung aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg; 640 Seiten, 13 Euro

Foto: pixabay

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