Juan Gómez Bárcena „Kanada“

„Alle schuldig. Alle würden sie alles tun, um zu überleben (…).“

Man möge mir verzeihen, dass dieser Band, der innen wie außen so voller Trauer und Schmerz ist, nach meiner Lektüre mit bunten Fähnchen übersät ist. Es gibt viele Passagen, die sich einprägen, die neben der Handlung und der Botschaft des Buches unvergesslich bleiben. Sicher: Es gibt viele Bücher über das Leiden und die Verbrechen, schlichtweg das Unfassbare, im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Doch der neue Roman des Spaniers Juan Gómez Bárcena mit dem eigenartigen Titel „Kanada“ ist wohl eines der anspruchsvollsten.

Ein Raum wird zur Zelle

Der Krieg ist vorbei. Ein Mann kehrt zurück. Er glaubt, er denkt, dass sein Haus zerstört ist. Warum sollte es noch stehen, wenn die Stadt eine einzige Trümmerwüste ist. Doch sein Haus ist intakt. Ein Nachbar hat sich darum gekümmert, der dafür das Recht einfordert, über seine Nutzung zu bestimmen. Der Mann bekommt ein kleines Zimmer zugewiesen, das mit der Zeit zu einer selbstgewählten Zelle wird, Wohn- und Schlafzimmer, Büro und Toilette vereint. Die anderen Räume vermietet der Nachbar, dessen Frau dem Mann Essen bringt. Der Mann leidet Hunger, ist unfähig, sich um sich selbst zu kümmern. Jahre ziehen ins Land. Die Mieter gehen ein und aus, die Tochter des Ehepaars wächst heran.

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Nach und nach beginnt sich das Geschehen und seine Protagonisten zu verorten, klarer zu werden. Es wird deutlich, dass der Mann ein renommierter Astrophysiker war, der einst an der Universität unterrichtet hat. Mit einigen Hinweisen auf Straßen und Plätzen und einem weiteren historischen Ereignis schält sich der Schauplatz heraus: Es ist Budapest, wo sich im Jahr 1956 der blutige Ungarische Volksaufstand entfesselt. Der Nachbar ist einer der Aufständischen, die sich gegen die russische Besatzer erheben. Zugleich werden die Erinnerungen des Mannes an den Krieg mehr und mehr präzise. Was ist damals geschehen? Was hat ihn zu jenem Mann werden lassen, der in einem winzigen Raum haust, Hunger erleidet, wie im Delirium Bücher verbrennt, obwohl er ein Mann der Wissenschaft ist, Wissen an seine Studenten vermittelt hat?

Traumatisierung und Entfremdung

Die Ursache ist Kanada. Nicht das Land im Norden Amerikas, das aber erstaunlicher- wie erschreckenderweise Pate stand. Kanada bezeichnete im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau ein Areal und ein Kommando. Hier wurde der Besitz der Häftlinge aufgenommen, um- und weiterverteilt. Angehörige des Kommandos nahmen oftmals die Gelegenheit wahr, sich zu bereichern, Dinge an sich zunehmen, um diese unter anderem gegen Lebensmittel und Kleidung einzutauschen. Diese Zwangsarbeit war bei den Häftlingen begehrt, weil sie physisch leichter zu bewältigen war, als andere körperliche Strafarbeit. Der Mann, dessen Namen János Kövári nur an einer Stelle genannt wird, wird deshalb dazu herangezogen, weil er „gut mit Zahlen kann“. So lädt er eine unermessliche Schuld auf sich, obwohl er vollkommen unschuldig in das Lager gebracht wird. Er wird unfreiwillig Teil des Systems. Neben den Beobachtungen des grauenvollen Lagerlebens ist das der Grund für seine Traumatisierung, für seine innerliche Zerbrochenheit und Entfremdung, die sich auch in der ungewöhnlichen Du-Perspektive ausdrückt, mit der sich der Mann selbst anredet, einem Selbstgespräch gleich, das Beschreibungen und vielfältige Reflexionen zu den unterschiedlichsten Themen – ob Astronomie oder Opfer und Totenkult in den Hochgesellschaften Ägyptens und der Azteken – vereint.

„Ein ganzes System, das sich um den Tod, um das Nichts drehte. Sein Scheitelpunkt zeigt in einen Himmel, der leer ist, schon immer leer war. Du weißt, dass die Götter, die solche Opfer forderten, nicht existieren.“

Der Spanier Bárcena, Jahrgang 1984, gilt als einer der angesehensten Schriftsteller der jüngeren Generation seines Landes. Für seinen Debüt-Roman „Der Himmel über Lima“, ebenfalls im Secession Verlag für Literatur erschienen, wurde er mehrfach ausgezeichnet. Sein neuestes Werk ist nicht minder preisverdächtig. Es ist überaus ungewöhnlich – mit seiner komplexen Geschichte, seinem markanten Stil, seiner extremen Wucht. Es ist immer unerträglich und unerträglich schmerzhaft, über Auschwitz, über die Erinnerungen der Überlebenden zu lesen, die es oftmals schon als Schuld empfinden, diese Höhle überhaupt überstanden zu haben; im Gegensatz zu den Millionen anderer. Aber dieses Werk schreibt sich mit seiner Intensität sowie eindrücklichen Szenen und Bildern drastisch und konzentriert in den Leser ein. Ein unvergessliches Meisterwerk!

Weitere Besprechungen auf den Blogs „literaturleuchtet“ und „Poesierausch“ und dem Online-Magazin „postmondän“.


Juan Gómez Bárcena: „Kanada“, erschienen im Secession Verlag für Literatur Zürich, in der Übersetzung aus dem Spanischen von Steven Uhly; 192 Seiten, 20 Euro

Foto: pixabay

3 Kommentare zu „Juan Gómez Bárcena „Kanada“

    1. Ja, ich denke, auch in meinem aktuellen Lesejahr ist und bleibt dieses Buch eines der besten, obwohl das Jahr noch einige Monate hat. Vielleicht ist es sogar mehr, ein Buch, das sich in die Lesebiografie besonders eingeschrieben hat. Als Schullektüre finde ich es allerdings zu anspruchsvoll. Viele Grüße

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      1. Das könnte schon sein. Ich als Schüler hätte das Buch verflucht 😉
        Das Buch brennt dich auf jeden Fall ein und ich werde es noch öfter zur Hand nehmen.

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