Linde Hagerup „Ein Bruder zu viel“

„Aber manchmal muss man Dinge tun, von denen man nicht gewusst hat, dass sie möglich sind.“

Manchmal kann die Welt furchtbar gemein und doof sein. Nämlich dann, wenn sich alles und jeder sich gegen einen verschworen hat. Sara hat dieses Gefühl. Dabei war doch bis vor Kurzem alles prima, ja bestens. Mit ihren Eltern, ihrer älteren Schwester Emilie und in der Schule. Doch dann tritt der kleine Steinar in ihr Leben und das ihrer Familie und krempelt dieses von Grund auf komplett um. Die Norwegerin Linde Hagerup hat mit ihrem Kinderbuch „Ein Bruder zu viel“ ein warmherziges, mal heiteres, mal melancholisches Werk geschrieben – für sowohl jüngere als auch ältere Leser.

Aus Autorenfamilie stammend

Ich griff zu diesem Buch, nachdem ich eine Reihe sehr schwermütiger und ernster Romane gelesen hatte, ich wollte etwas anderes lesen, etwas leichteres, das aber trotzdem tiefgründig ist. Und so lässt sich das Buch der Norwegerin, die schon einige Werke für eine jüngere Leserschaft verfasst hat, auch beschreiben. Hagerup, 1968 geboren, stammt aus einer Autorenfamilie, ihre Großmutter Inger Hagerup und ihr Vater Helge Hagerup waren erfolgreich Schriftsteller. Mit gerade mal 17 Jahren begann sie ihr Studium an der Schreibakademie in Bergen. Ihr Lehrer war kein Geringerer als der auch hierzulande bekannte und geschätzte Schriftsteller Jon Fosse. Sie debütierte 1999 mit einem Band Kurzgeschichten. „Ein Bruder zu viel“ ist 2016 in ihrem Heimatland erschienen.

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Man sagt, ein sehr gutes Kinderbuch begeistert auch Erwachsene. Mit diesem Band ist es der Skandinavierin gelungen, mehrere Generationen für diese Geschichte einzunehmen. Sara, die die vierte Klasse besucht, ist Heldin und sogleich Ich-Erzählerin. Sie berichtet aus ihrer Perspektive von den plötzlichen, ja tragischen Geschehnissen, die ihr Leben und das ihrer Familie gehörig auf den Kopf stellen. Alles beginnt, als die beste Freundin ihrer Mutter verstirbt. Zurück bleibt der fünfjährige Steinar. Saras Eltern entscheiden sich, den Jungen bei sich aufzunehmen. Die Familie wird größer, Steinar zieht in Saras Zimmer, was nicht ohne Konflikte bleibt. Denn Steinar steht fortan im Mittelpunkt. Ein Junge, der seine Mutter verloren hat, dessen Gefühle Achterbahn fahren, der mal traurig, mal fordernd, mal jähzornig ist. Sara fühlt sich vernachlässigt und findet keinen Weg, sich dem „neuen kleinen Bruder“ zu nähern. Bis ihr eine besondere Idee kommt und sie sich für Steinar auf erstaunliche Weise verwandelt.

„Etwas, das mir vorkam wie ein kleines Tier, fing an, in meinem Bauch herumzukratzen. Ich war diesem Tier schon einige Male begegnet. Ich nannte es das Ich-Halt-Das-Nicht-Mehr-Aus-Tier!“

„Ein Bruder zu viel“ spricht dabei mehrere Themen an. Es geht um den besonderen Zusammenhalt innerhalb einer Familie, um die engen Beziehungen zwischen Eltern und ihren Kindern, für die sie Vertrauenspersonen, aber auch Mentoren sind. Vor allem der Vater hat zu Sara eine spezielle Bindung, ist er es doch, der ihr die Bedeutung von Liebe, Zuneigung und Verständnis als Grundsteine jeder Gemeinschaft vermittelt: „Die Liebe ist wie ein Paar Beine, das du nicht sehen kannst. Diese Beine können viel weiter laufen als deine normalen Beine. Diese Beine nämlich tragen dich durch das Leben“, heißt es da an einer Stelle. Doch auch Trauer und Verlust spielen in dem Buch eine Rolle. Wie es der Autorin gelingt, die verschiedenen Gefühle der Charaktere in einer kindgerechten Sprache prägnant und nachvollziehbar zu vermitteln, beeindruckt.

Beeindruckende Balance

Begleitet wird diese ungemein menschliche, herzerwärmende Geschichte, die Heiterkeit und Melancholie in einer beeindruckenden Balance bringt, von wunderbaren Bildern der Berliner Grafikerin und Illustratorin Felicitas Horstschäfer. In nur wenigen Farben, in Blau, Gelb, Schwarz und Weiß gehalten, fangen sie besondere Momente meist symbolhaft ein. Es macht sehr viel Freude, den Text zu lesen und die Bilder zu betrachten, die einen schmunzeln lassen, aber einen sehr berühren. „Ein Bruder zu viel“ wird für Kinder ab neun Jahren empfohlen. Es bietet Eltern die Gelegenheit, das Buch gemeinsam mit ihren Kindern zu lesen, um somit die verschiedenen Themen, Gefühle und Konflikte zusammen zu besprechen und vielleicht Parallelen zu ziehen. Doch auch allein wird der Leser seine große Freude mit diesem Buch haben, in dem sowohl leise Szenen als auch großartige Überraschungen stecken.


Linde Hagerup: „Ein Bruder zu viel“, erschienen im Gerstenberg Verlag, in der Übersetzung aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs, mit Bildern von Felicitas Horstschäfer; 144 Seiten, 14,95 Euro

Foto: pixabay

4 Kommentare zu „Linde Hagerup „Ein Bruder zu viel“

  1. ……ihr Großvater Inger Hagerup…..

    Inger ist im Skandinavischen ein weiblicher Vorname. Eine bekannte Namensschwester ist Inger Nilsson, die Pipi Langstrumpf in den Verfilmungen der Kinderbücher von Astrid Lindgren spielte.

    Inger Hagerup war eine beliebte norwegische Lyrikerin und Schriftstellerin, die u.a. viele wunderbare Gedichte geschrieben hat.
    Grüße aus Göttingen von Inger Halvorsen.

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