Carmen Buttjer – „Levi“

„Die Welt hatte ihre Farbe verloren.“ 

Schlüsselkind, Sohn eines Anwalts, Halbwaise: All das ist Levi, elf Jahre alt. Als seine verstorbene Mutter Katharina beigesetzt werden soll, schnappt sich der Junge kurzerhand die Urne – und verschwindet mit ihr. Auf dem Dach des mehrstöckigen Hauses, in dem die Familie lebt, richtet er sich samt Zelt und Proviant ein. Carmen Buttjer hat mit ihrem Debüt „Levi“ ein wundervolles und berührendes Buch über Verlust und Trauer mit einem unvergesslichen Helden geschrieben.

Zwischen Wut und Zuneigung

Der Elfjährige ist in weiten Teilen des Romans auch Ich-Erzähler, der nach der Beisetzung richtungslos und ruhelos erscheint, der in der großen Stadt Berlin, in den Straßen und auf den Plätzen, und inmitten eines heißen Sommers nur für kurze Zeit an einem Ort sein kann: ob auf dem Dach des Mietshauses, in der Wohnung des Nachbarn Vincent, im Kiosk von Kolja, der einst als Kriegsfotograf die Welt bereist hat -, nie hält es ihn lange. Immer wieder trifft Levi meist ungewollt auf seinen Vater David. In seinem Gefühlschaos und ob des schmerzlichen, tragischen Verlustes schwankt er dabei zwischen Wut und Zuneigung. Beide wissen sie nicht, wie sie miteinander umgehen sollen, beide haben nicht die richtigen Worte. Der Vater, selbst ein Trauernder, findet nicht die Nähe zu seinem Sohn, um ihm Trost zu spenden. Mit Vincent und Kolja gibt es hingegen vertraute Menschen, die ihm zuhören und ernst nehmen, obwohl sie Erwachsene und einige Jahre älter sind und in der Vergangenheit ebenfalls von Schicksalsschlägen getroffen worden sind und Trauer erleben mussten.

Blog_Levi

Obwohl das Buch einen recht schmalen Umfang besitzt, weist es eine thematische Dichte auf. Neben den nicht minder traumatischen Erlebnissen von Vincent und Kolja wird auch von den Spannungen innerhalb der Familie des Jungen erzählt: von den ständigen Streitigkeiten seiner Eltern, den Umzügen von einer europäischen Metropole in die andere – von London über Paris schließlich nach Berlin. Diese Richtungslosigkeit des Kindes hat wohl bereits darin seinen Ursprung.  Das einzig Beständige in der Zeit nach dem Tod seiner Mutter sind neben seinem seelischen Ausnahmezustand das Haus, Sonne, Regen und Wind, Koljas Kiosk sowie die Straßen der Stadt.

Grenzenlose Fantasie des Kindes

Dieser warmherzige Roman umfängt den Leser mit einer ganz eigenen Poesie und Melancholie, vor allem jedoch mit der grenzenlosen Fantasie und Imagination des Kindes, das in seinem Kopf, in seiner Gedanken- und Gefühlswelt, die Wirklichkeit einfach umschreibt. Das macht es für den Leser nicht leicht, der unter anderem versucht, den frühen plötzlichen Tod der Mutter, die als Pathologin arbeitet, zu erklären. War Levi in der Nacht wirklich vor Ort, als seine Mutter starb? War es ein Tötungsverbrechen, von dem er mehrmals berichtet und das er mit dem sogenannten Tiger, einem hochgewachsenen Mann, in Verbindung bringt? Neben der überbordenden Fantasie des Kindes fordern auch Leerstellen innerhalb der Handlung den Leser heraus. Nicht alles wird genau im Laufe des Geschehens geschildert und erklärt. Und auch Kolja, der Levi dann und wann in seinem Kiosk arbeiten lässt, verlässt in seinen Gedanken und Erinnerungen die Realität, um vertrauten Personen, seinen Freunden und Journalistenkollegen Tom und Joan, wenigstens gedanklich nah zu sein.

„Ich lehnte mich aus dem Fenster und bekam ein Gefühl des Nirgendwoseins. Es ging immer weiter, manchmal glaubte ich eine Straße wiederzuerkennen, um dann festzustellen, dass sie sich nur ähnlich sahen, ich wollte nicht ankommen.“

„Levi“ enthält beeindruckende Sätze und Passagen, die man mehrmals lesen möchte, um die ganze Schönheit und Klugheit der Worte aufzunehmen. Manchmal wünscht man sich, dass dieses Buch weiter geht, mehr Seiten umfasst. Man möchte die Geschichte und die Welt des Jungen trotz dieser Traurigkeit und Melancholie nicht verlassen.

Carmen Buttjer ist für ihren Roman für den diesjährigen Bayerischen Buchpreis in der Kategorie Belletristik nominiert; die Diskussion und die anschließende Preisverleihung findet am 7. November statt.  2017 erschien mit „Fuchsteufelsstill“ (Ullstein) bereits ein Buch der Autorin unter dem Pseudonym Niah Finnik. Darin beleuchtet sie anhand der jungen Heldin Juli das Thema Autismus autobiografisch. Die 1988 geborene Autorin hat das Asperger Syndrom. Aufgewachsen in Deutschland und Finnland, studierte sie an der Kunsthochschule Kassel. Sie schreibt eine eigene monatliche Kolumne auf Vogue Online. Was wohl literarisch in den kommenden Jahren aus ihrer Feder/PC wohl kommen mag? Man kann wirklich sehr gespannt sein. Denn „Levi“ ist ein mehr als überzeugendes, ein herausragendes Debüt.


Carmen Buttjer: „Levi“, erschienen im Verlag Galiani Berlin; 272 Seiten, 20 Euro

Foto: von Lenalensen auf Pixabay

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