Jón Kalman Stefánsson – „Ástas Geschichte“

„Und das Leben kann ein so schrecklich kurzer Atemzug sein.“

Was ist ein Leben anderes als ein Wollknäuel aus Fäden verschiedener Farben, die sowohl für die eigenen Erlebnisse, Gedanken und Erinnerungen als auch für die Gedanken und Erinnerungen anderer, die uns all die Jahre über begleiten, stehen. An ein solches Wollknäuel erinnert der neue Roman des Isländers Jón Kalman Stefánsson, denn in „Ástas Geschichte“ findet sich ein Chor aus Stimmen, die zusammengefügt ein eindrückliches Bild einer besonderen Frau erschaffen.

Name aus einem Laxness-Roman

Stefánsson hat den Namen seiner Heldin ganz bewusst gewählt. Das kleine, aber zugleich große Wort „ást“ bedeutet aus dem Isländischen ins Deutsche übersetzt „Liebe“.  Die Eltern der Heldin haben ihr Kind nach einer Figur aus dem Roman „Sein eigener Herr“ des isländischen Literaturnobelpreisträgers Halldór Laxness benannt. Liebe und vor allem deren Scheitern ist eines der großen bewegenden Themen dieses Romans, der von der wechselvollen und auch tragischen Geschichte der Frau mit der „Liebe“ im Namen erzählt. Als Ásta nur wenige Monate alt ist, verlässt Mutter Helga die Familie, die daraufhin komplett zerrissen wird. Vater Sigvaldi sieht sich außerstande, sich um die beiden gemeinsamen Töchter zu kümmern und beginnt eine Beziehung zu einer anderen Frau, um mit ihr Jahre später das Land in Richtung Norwegen zu verlassen.

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Ásta kommt zu einer Ziehmutter, ihre ältere Schwester in eine Pflegefamilie. Als Jugendliche wird sie von ihrer Ziehmutter, einer herzensguten Frau, fortgerissen, weil sie nach einem folgenreichen Vorfall als schwer erziehbar gilt. Sie wird von Reykjavík aufs Land geschickt – zu den abgeschiedenen und dünn besiedelten Westfjorden, wo sie an der Seite des Bauern Arni, dessen betagter Mutter und dem gleichaltrigen Jungen Jósef lebt und arbeitet.

Vom Verlassen und Verlassenwerden

Obwohl fernab ihrer geliebten Ziehmutter werden diese Monate die wohl schönsten im Leben von Ásta sein. Erst später werden ihr ihre Gefühle zu Jósef klar. Die Jahre danach sind gefüllt mit schmerzvollen Verlusten und Erfahrungen sowie Lebensmüdigkeit. Ihr Studium fernab der Heimat und ihr erfolgreicher beruflicher Weg können wenig Trost bieten. Ásta flüchtet sich in sexuelle Erlebnisse mit verschiedenen Männern, zu denen auch ein Professor und ein Journalist zählen. Sie gilt dadurch als mannstoll und lüstern. Ihr Ruf leidet, auch durch den Absturz ihrer Mutter. Ihr ruheloses Leben, das sie an mehreren Orten, in mehreren Ländern verbringt, ist gezeichnet vom Verlassen und Verlassenwerden sowie von der stetigen Suche nach der Liebe.

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Jón Kalman Stefánsson (r.) im Gespräch mit Kristof Magnusson während einer Lesung in den Nordischen Botschaften Berlin

Das kleinteilige episodenhafte Geschehen wird aus verschiedenen Perspektiven erzählt. Unter anderem blickt Vater Sigvaldi in einer misslichen Lage – er liegt als Anstreicher nach einem Sturz von der Leiter schwer verletzt auf dem Fußweg – zurück auf die Zeit. Ásta schreibt Briefe an ihre große Liebe. Es ist zu Beginn nicht leicht, die Stimmen einer Person zuzuordnen oder die Geschehnisse einem Ort oder einer Zeit zuzuweisen.  Man braucht etwas Geduld. Wer sich jedoch dieser Herausforderung stellt, wird von diesem, ein halbes Jahrhundert umspannenden Roman so schnell nicht loskommen und belohnt werden. Und wer die Romane des preisgekrönten Isländers, der im vergangenen Jahr für den alternativen Literaturnobelpreis nominiert war, kennt, wird den Grund dafür erahnen. Auch dieses Werk ist reich an Gedanken über die großen Themen Leben und Liebe, Tod und Vergänglichkeit. In den Abschnitten, in denen ein Schriftsteller sich aufs Land zurückzieht, wird auch kritisch Bezug genommen zur aktuellen Politik. Der Name Trump fällt da mehrfach. Einige der prägenden Sätze dienen als Überschriften von Kapiteln und Teilen des Buches. Der Roman selbst erhielt den fragenden Untertitel: „Wohin geht man, wenn es keinen Weg aus der Welt gibt?“

„Man kann nicht leben, ohne Fehler zu machen, denk daran, alle lassen wir uns irgendwann was zuschulden kommen, begehen einen Fehler, versündigen uns sogar gegen die, die wir lieben. Aber das richtet uns nicht. Nur wie wir es wieder in Ordnung bringen.“

All das sind keine vermeintlich klugen Küchen- oder Stammtischsprüche, die man à la „Wird schon wieder!“ oft zu hören bekommt, sondern poetische und weise Gedanken. Stefánsson liegt es nicht so sehr daran, das Leben der Protagonistin lückenlos und chronologisch zu schildern. Es geht ihm vielmehr um das große Ganze, die bewegenden Fragen des Lebens, auf die es indes nicht immer eine klare Antwort gibt, sondern weitere Fragen, weitere Gedanken, die sich ineinanderschlingen. Für die Figur der Ásta hatte der isländische Schriftsteller ein durchaus reales Vorbild: seine Großmutter mütterlicherseits. Dies erzählte er während einer Lesung in den Nordischen Botschaften in Berlin im Gespräch mit dem deutsch-isländischen Autor und Übersetzer Kristof Magnusson.

Von Menschlichkeit und Melancholie

Stefánssons außergewöhnlich konstruierter Roman „Ástas Geschichte“, der für Musikfans zudem eine interessante Playlist aus Titeln bekannter Sänger und Sängerinnen von Miles Davis über Bob Dylan und Nick Cave zu Nina Simone enthält,  ist durchwoben von tiefer Menschlichkeit und Melancholie. Er erzählt auf ergreifende Art und Weise von der Leidenschaft des Menschen für die Liebe und das Leben, aber auch von unwiderruflichen Fehlern und falschen Entscheidungen, die dem eigenen Leben und das anderer eine andere Richtung geben können – doch von denen jedoch keiner von uns frei ist.

Eine weitere Besprechung des Romans gibt es auf dem Blog „literaturleuchtet“ von Marina Büttner.


Jón Kalman Stefánsson: „Ástas Geschichte“, erschienen im Piper Verlag, in der Übersetzung aus dem Isländischen von Karl-Ludwig Wetzig; 464 Seiten, 24 Euro

Bild von David Mark auf Pixabay

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