Ulrich Alexander Boschwitz – „Menschen neben dem Leben“

„Die Welt war im Begriff auseinanderzubersten (…).“

Wenn ich durch Kunstausstellungen gehe, die Namen der Künstler und deren Lebensdaten lese und manchmal erkennen muss, dass einigen kein langes Leben beschieden war, die Sterbejahre auf die großen Kriege, Leid und Vernichtung hinweisen, empfinde ich eine tiefe Trauer. Ich frage mich: Was hätte jener Künstler noch schaffen, entstehen lassen können? Nicht anders ergeht es mir bei Schriftstellern. An einen denke ich nach der Lektüre von nunmehr zwei seiner Romane des Öfteren: an Ulrich Alexander Boschwitz (1915 – 1942). Nach der großen literarischen Entdeckung seines Buches „Der Reisende“  durch den Verleger Peter Graf über die bedrohliche antisemitische Stimmung in den ersten Jahren des Dritten Reiches ist mit „Menschen neben dem Leben“ nun glücklicherweise auch das Debüt des gebürtigen Berliners erneut erschienen.

Geteiltes Leben

Nunmehr indes unter seinem richtigen Namen. Denn der Roman wurde bereits 1937 in einer schwedischen Übersetzung  unter dem Titel „Människor utanför“ und unter dem Pseudonym John Crane veröffentlicht, zwei Jahre nachdem Boschwitz, der Sohn eines jüdischen Kaufmanns, aus Deutschland in den Norden Europas geflohen war. Führt sein Buch „Der Reisende“ anhand der Erlebnisse des Helden, des Kaufmanns Otto Silbermann, in die 30er-Jahre, stehen in seinem Erstling die Zeit der Wirtschaftskrise und eine Handvoll Frauen und Männer im Mittelpunkt des Geschehens. Es sind Figuren, die schon bessere Tage erlebt haben, deren Leben sich in ein Davor und ein Danach teilen lässt. Fundholz hatte einst Familie, einen Beruf, ein Zuhause. Nun schlägt er sich von Tag zu Tag durch, durch die Straßen der Stadt streunend auf der Suche nach Nahrung und einem Schlafplatz. An seiner Seite: Tönnchen, ein beleibter, verrückter und stets hungriger Kerl, der, seitdem er als Kind in einem Keller eingesperrt war, einen Knacks weg hat. Minchen Lindner schafft an, ihr Vater war einst Gerichtsvollzieher und landete nach einigen Betrügereien im Knast.

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Allgemein haben die meisten es nicht so mit Recht und Gesetz, um sich über Wasser zu halten. Grissmann, früher Straßenbahnschaffner, macht Kohle mit Erpressung und Einbrüchen. Der blinde Sonnenberg, der sein Augenlicht im Krieg verloren hat, prügelt seine Frau. Bilden zu Beginn der Keller des Gemüsehändlers Schreiber sowie die Straßen Berlins die Schauplätze des Romans, führen die Wege nahezu sämtlicher Protagonisten schließlich in das Lokal „Fröhlicher Waidmann“, wo Zuhälter, Trinker, Tänzer und Obdachlose aufeinandertreffen. Boschwitz gelingt es trefflich, die verschiedenen Figuren mittels Begegnungen zusammenzuführen und darüber hinaus ihre persönliche, von Krieg und Krise gezeichnete Geschichte zu schildern. Haben die älteren Charaktere die Hoffnung längst aufgeben, kennen es die jüngeren nicht anders. War der Keller der Gesellschaft doch schon immer ihr Zuhause. Einen besseren Titel als „Menschen neben dem Leben“ kann es für dieses Buch nicht geben. Dass sich Frau Fliebusch der Hoffnung hingibt, ihren gefallenen Mann Wilhelm wiederzusehen, hat wohl andere Gründe.

„Viele taten tatsächlich alles nur noch teilweise. Sie aßen wenig, rauchten wenig, schliefen mit vielen anderen zusammen und kauften sich außer Papierkragen und neuen Schnürsenkeln keinerlei Kleidungsstücke.“

In diesem eindrücklichen Porträt jener Zeit finden sich verschiedene Töne, die der Erzähler anschlägt. Der junge Autor scheint auf der Suche nach seiner Sprache zu sein. Mal findet sich in den Szenen ein leicht beißender Humor, gibt es wiederum auch sachlich wirkende Passagen, die sich kritisch mit den Bedingungen und den Ursachen der fatalen Lage der Menschen auseinandersetzen. Wer aufmerksam liest, wird auch Zeilen finden, die als düstere Prophezeiungen verstanden werden können. Die Welt bewegt sich aus der einen von Menschen gemachten Katastrophe in die nächste. Und der Hass auf die jüdische Bevölkerung ist bereits als Samen im Wesen vieler Menschen angelegt, der statt Wasser und Dünger bekanntlich mit Propaganda und Hetze aufgehen wird. Auch der Zorn und die Gewaltbereitschaft sind bereits vorhanden. Das blutige Drama am Ausgang des Geschehens ist der Beweis. Boschwitz beweist sich schon mit seinem Erstling als guter Beobachter der Menschen in ihrer Zeit und in ihrer Stadt. Das Berlin jener Jahre scheint  der junge Autor zu kennen. Hier ist er geboren, aufgewachsen, von hier musste er im Alter von 20 Jahren fliehen.

Zwei Manuskripte verschollen

Einen weiteren Roman von Boschwitz als Erst- oder Wiederveröffentlichung wird es wohl mit großer Wahrscheinlichkeit nicht geben. Zwar schrieb er noch zwei weitere Texte, aber die gelten als verschollen, schreibt Herausgeber Peter Graf in seinem Nachwort. Es muss wohl ein Wunder geschehen, eine weit größere Überraschung geben als mit dem Fund des Romans „Der Reisende“. Ein Manuskript wurde Boschwitz auf der HMT Dunerea auf dem Weg von England in das Internierungslager nach Australien  gestohlen, ein weiteres hatte er bei sich, als das Schiff „M.V. Abosso“  am 29. Oktober 1942 auf dem Rückweg nach Europa von einem deutschen U-Boot torpediert im Atlantik sank. Mehr als 360 Passagiere und Besatzungsmitglieder verloren dabei ihr Leben, darunter Boschwitz, der nur 27 Jahre alt wurde. Seit Juli 2019 erinnert ein Stolperstein im Hohenzollerndamm (Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf) an den Autor.

Für ihn kommt der Ruhm viel zu spät, für die literarische Öffentlichkeit sind seine beiden wiederentdeckten Bücher ein großes Geschenk – und zugleich eine Mahnung vor den Folgen von Krieg und Krisen, die wiederum Unzufriedenheit und Hass und damit den nächsten Krieg heraufbeschwören können.  In meinem Regal haben die beiden Bände von Boschwitz ihren Platz gleich neben den Büchern von Hans Fallada sowie den Romanen „Mich hungert“ von Georg Fink und „Blutsbrüder“ von Georg Haffner gefunden, zwei im einst von Graf geleiteten Metrolit-Verlag erschienene und ebenfalls wiederentdeckte Titel. Ich denke, dort gehören Boschwitz‘ Romane auch hin.

Auf ihrem Blog „literaturleuchtet“ hat Marina Büttner eine Besprechung der Hörbuch-Fassung des Romans geschrieben.


Ulrich Alexander Boschwitz: „Menschen neben dem Leben“, erschienen bei Klett-Cotta, mit einem Nachwort des Herausgebers Peter Graf; 303 Seiten, 20 Euro

Bild von K. H. J. / MCI auf Pixabay

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