„Unter den Wellen manövriert das größte Tier der Welt wie ein Kunstflugpilot oder ein verspielter Rabe in einer Windböe.“
Andreas Tjernshaugen hat bereits über die nur wenige Gramm schweren und nicht einmal Handteller großen Meisen geschrieben. Sein Buch „Das verborgene Leben der Meisen“ (Insel Verlag) wurde ein Erfolg, ein Bestseller, auch in Deutschland. In seinem neuesten Werk wendet sich der Norweger dem ganzen Gegenteil zu: den größten Tieren auf unserem Planeten – den tonnenschweren Walen, wobei besonders der Blauwal im Mittelpunkt steht. Der Soziologe und Sachbuch-Autor scheint die Kontraste zu lieben. Sein Buch ist eine Liebeserklärung an die einzigartigen Säuger, aber auch eine Abrechnung mit dem gefährlichsten und gewissenlosesten Raubtier, uns Menschen.
Größer, schneller, effizienter
Von Walen und Menschen heißt der Titel des Bandes. Doch all jene, die bestimmte Erwartungen haben, sollen bereits an dieser Stelle gewarnt sein. Die Beziehung zwischen dem größten Tier der Erde und der sogenannten Spitze der Evolution ist vor allem eine blutige und brutale, die oft nur schwer zu ertragen ist. Bereits zu Beginn erzählt Tjernshaugen eine Geschichte aus dem Jahr 1865, die sich an der schwedischen Küste vor Göteborg abgespielt hat: Zwei Männer töten einen gestrandeten Wal. Es ist eine grausame Schlächterei mit Messern und Äxten, die der Norweger sehr detailreich schildert. In genau diese Zeit fällt auch der Beginn des modernen und industriellen Walfangs. Waren Männer Jahrhunderte lang mit Speeren und Harpunen auf Jagd gegangen, kommen im 19. Jahrhundert Harpunenkanonen und Dampfwinsch zum Einsatz. In den Hochzeiten fahren Fabrikschiffe und Trankochereien auf hohe See, um den Fang effizienter zu machen. Die Welt braucht Tran – für Lampen und Margarine, für Seife und Schmierstoffe. Auch das Fischbein findet Verwendung. Waren einst die riesigen Säuger hauptsächlich als Nahrungsquelle für das Überleben entscheidend, sind später Geschäft und Profit ausschlaggebend. Oftmals werden die getöteten Tiere nicht einmal komplett verwertet, unzählige verrotten. Bis der Blauwal 1965 unter Schutz gestellt wird, wurden von der Jahrhundertwende bis in die Mitte der 1960er-Jahre knapp 380.000 Blauwale getötet.
Tjernshaugen, 1972 in Nesodden nahe Oslo geboren, erzählt die Geschichte des industriellen Walfangs anhand von realen Persönlichkeiten, die den Walfang entwickelt und ausgebaut haben. Wie der Schiffsmagnat Svend Foyn oder der Kapitän Carl Anton Larsen, der in Richtung Antarktis aufbrach. Norwegen war Vorreiter, das Land ein Vorbild. Hier entstanden die meisten der Fangschiffe, von hier stammten die wagemutigen Harpunierer, die nahezu weltweit zum Einsatz kamen, wobei sich vor allem das dramatische Geschehen in den antarktischen Gewässern abspielte. Später namen auch Großbritannien, Japan, Russland und Deutschland entscheidende Rollen ein, wurde der Walfang ein streitbares außenpolitisches wie wirtschaftspolitisches Thema.
Wissenschaftler begleiten Walfänger
Doch der Autor blickt zudem auf die beiden anderen Beziehungen zwischen Wal und Mensch: Mit dem Walfang wurden die Stimmen zum Schutz der Riesen immer lauter, waren an Bord der Fangschiffe auch Wissenschaftler, die sich mit den Tieren intensiv beschäftigten und neue Erkenntnisse sammelten. In seinem Rückblick und die Zeitreise durch die Jahrhunderte lässt Tjernshaugen auch immer wieder das jetzige, überaus spannende Wissen einfließen: Was unterscheiden die Walarten, wie sind sie im Laufe der Evolution entstanden, welche Wege nehmen sie auf ihrer weiten Reise durch die Ozeane und Meere, was hat es mit ihren Gesängen auf sich, welche bedeutende Rolle spielt der Krill.
„Jede gewaltsame Verschiebung dieses Gleichgewichts ist immer eine bedenkliche Sache, da man nicht wissen kann, welche weiteren Folgen sie mit sich bringt.“
Obwohl dieser Band reich an Fakten, Zahlen, Protagonisten und Themen ist, gelingt es Tjernsjaugen meisterhaft, diese Vielzahl an verschiedenen Informationen überaus verständlich und lesenswert aufzubereiten. Der Norweger hat aufwendig recherchiert. Die Quellenangaben und die Literaturverweise sind umfangreich. Zudem reiste er nach Island sowie auf die Azoren und besuchte die Stätten seines nordischen Heimatlandes, die mit dem Walfang verbunden sind. So die südnorwegische Vestfold-Region, wo er das Walfangmuseum in Sandefjord und das dortige Archiv besuchte. Tjernshaugen vergisst indes trotz aller Fakten eines nicht zu beschreiben – worin die Faszination für die Meeressäuger liegt und was sie so einzigartig und staunenswert macht.
Kein Ende der Gefahren
Die aktuell größte Gefahr der Wale neben Lärmverschmutzung und Kollisionen mit Schiffen kommt nicht in Form von Fangfabriken. Der Klimawandel wirkt sich auf vielerlei Weise auf die Lebensbedingungen der Tiere aus. So auf das Wasser und die Nahrungsquelle. Auf einer der abschließenden Seiten des eindrucksvollen und tiefgründigen Buches heißt es: „Wie alle anderen Lebewesen auf dem Planeten sind der Krill und der Blauwal Versuchskaninchen im gigantischen Klimaexperiment, das wir Menschen in Gang gesetzt haben.“ Welchen Ausgang es wohl nehmen wird? Jeder wird sich seine Gedanken machen. Doch es braucht wohl mehr als nur Gedanken.
Eine weitere Besprechung gibt es auf „bookgazette“.
Andreas Tjernshaugen: „Von Walen und Menschen. Eine Reise durch die Jahrhunderte“, erschienen im Residenz Verlag, in der Übersetzung aus dem Norwegischen von Martin Bayer; 256 Seiten, 22 Euro
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