Francesca Melandri – „Alle, außer mir“

„Für das, was hier geschah, hatte selbst Gott keine Worte.“

Drei Worte, eine Formel des Glücks, ein Mantra, das Attilio Profeti sein ganzes, nunmehr über 90 Jahre währendes Leben begleitet. Ein Leben, das Krieg und Kolonialismus – und Lügen kennt. Lügen über seine unrühmliche Vergangenheit, über seine Frauen, über die Anzahl seiner Kinder. „Alle, außer mir“ heißt diese Glücksformel, die sich im Titel des eindrucksvollen wie ergreifenden Romans der italienischen Schriftstellerin Francesca Melandri wiederfindet, der die Geschichte einer Familie über drei Generationen hinweg mit der Historie der beiden Länder Italien und Äthiopien verbindet.

Ein Leben voller Geheimnisse

Vieles beginnt mit einer Begegnung. So auch dieses Buch. Auf dem Treppenabsatz vor ihrer Wohnung trifft Ilaria, Lehrerin und Attilios Tochter, an einem Sommertag im Jahr 2010 auf einen jungen hochgewachsenen Mann aus Afrika. Er zeigt ihr seinen Ausweis mit dem langen Namen Shimeta Ietmgeta Attilaprofeti und gibt zu erkennen, dass er der Enkel ihres Vaters und damit ihr Neffe sei. Sie und sein Vater Ietmgeta seien Halbgeschwister. Mehrere Jahre sei er von seinem Heimatland über den Sudan und das Mittelmeer bis nach Rom gereist – mit Zwischenstation in einem libyschen Gefängnis. Ilaria und ihr Halbbruder Attilio, der ebenfalls den Namen seines Vaters erhalten hat, wollen es nicht glauben. Sie beginnen zu forschen, denn allzu viel kann ihr an Demenz erkrankter und hochbetagter Vater nicht mehr erzählen, der sich nur immer wieder daran erfreut, wenn er erfährt, dass er dank seines stolzes Alters andere überlebt hat.  Nichts ist seinen Kindern bekannt von seinem mehrjährigen Aufenthalt in Äthiopien während der Kolonialzeit, nichts von seiner Beziehung zu der Einheimischen Abeba, nichts über seine Rolle als Schwarzhemd und Helfer des Anthropologen und Rassentheoretikers Lidio Cipriani, der mit seinen Feldversuchen in Äthiopien den kruden Beweis der Höherwertigkeit der weißen Rasse liefern wollte. Ilaria findet indes Spuren und Zeugnisse in einer Kaffeedose.

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Die Szenen nach der Begegnung zwischen dem jungen Afrikaner und der Lehrerin wechseln sich ab mit dem Rückblick weit in das 20. Jahrhundert hinein, bis in die Kindheit von Attilio und seines älteren Bruders Otello in der norditalienischen Provinz. Diese Handlung wirkt zerrissen, kennt keine chronologische Abfolge. Der Leser springt so zwischen den Jahren und Jahrzehnten sowie den verschiedenen Orten, die für die Mitglieder der Familie sowie für eine Reihe authentischer Figuren wie Cipriani oder General Rodolfo Graziani, der nie für seine Kriegsverbrechen zur Verantwortung gezogen wurde, prägend waren. Das macht die Lektüre dieser komplexen Passagen anspruchsvoll und ob der grausamen Gewaltexzesse gegenüber Männern, Frauen und Kindern während des Kolonialkrieges auch so überaus erschütternd. Zum historischen Hintergrund hat die Autorin intensiv recherchiert. Ihr Dank am Ende ihres Buches gibt Auskunft.

Bruder in Gefangenschaft

Krieg und Tod sind stetige Begleiter der Familie: Attilios Vater Ernani bringt als Bahnhofsvorsteher und Herr über die Weichen die Züge mit den unzähligen Soldaten und später Verwundeten auf das richtige Gleis. Nur wenige Jahrzehnte später wird er Zeuge, wie die Juden in Richtung Vernichtungslager unter unmenschlichen Bedingungen transportiert werden. Attilio zieht in den Abessinienkrieg. Sein Bruder Otello gerät während des Zweiten Weltkriegs in amerikanische Kriegsgefangenschaft und wird in einem Lager in Texas inhaftiert. Mutter Viola, stolze und überzeugte Anhängerin des Duce, hat indes mit ihren Intrigen und Denunzierungen dafür gesorgt, dass der jüngste ihrer beiden Söhne vom Mahlstrom des zweiten großen Krieges verschont bleibt.

„Stell dir vor: Du hast einen wunderschönen Traum, kauerst dabei aber auf dem Ast eines Baumes. Minütlich musst du aber erwachen. Denn einerseits willst du nicht hinunterfallen und andererseits deinen Traum behalten. So ist es zu emigrieren.“

Kolonialismus und Faschismus sowie deren Auswirkungen auf die Gegenwart infolge des Vergessens und Verdrängens sind die großen Themen in Melandris dritten Roman. Die italienische Autorin zeichnet ein kritisches Stimmungsbild der jüngsten Vergangenheit ihres Heimatlandes, in dem unter der Regierung Berlusconis Rassismus und Faschismus eine politische und gesellschaftliche Rückkehr erleben. Eine Zeit, in der die beiden Machthaber Berlusconi und Gaddafi die Hand reichen, um zwielichtige Geschäfte abzuschließen. Eine Zeit, in der afrikanische Flüchtlinge trotz der Gefahren und der Lage in ihren Ländern abgeschoben werden. Kein Zaun umgibt Italien, dafür existieren verschärfte Asylregeln und Abschiebelager, die auch der junge Afrikaner erfahren muss. Nicht zu vergessen: Gier und Korruption, die schon seit Jahrzehnten blüht und jegliche Entwicklung in den afrikanischen Ländern unterbindet. Auch davon kann Attilio erzählen, wenn er sich an seine Zeit an der Seite des windigen gewissenlosen Geschäftsmanns Edoardo Casati erinnern könnte.

Melandri, 1964 in Rom geboren und zudem Verfasserin von Drehbüchern,  zeigt des Weiteren auf, dass es eben nicht nur Täter und Mitläufer, sondern in unerbittlichen und grausamen Zeiten auch Verfechter der Menschlichkeit gibt, die sich gegen Gewalt und Menschenverachtung stellen und anderen aufopferungsvoll helfen. Und dann gibt es noch die privaten „Grenzüberschreitungen“ – die intimen Beziehungen zwischen Attilio und Abeba sowie Ilaria und Piero Casati, der für die Mitte-Rechts-Partei Berlusconis im Parlament sitzt. Bindungen, die zwar gesellschaftliche und politische Konventionen überschreiten, die aber indes nichts am bedrückenden Zustand ändern können. Francesca Melandri hat mit „Alle, außer mir“ einen großartigen und vor allem für unsere Zeit wichtigen Roman geschrieben.


Francesca Melandri: „Alle, außer mir“, erschienen im Verlag Klaus Wagenbach, in der Übersetzung aus dem Italienischen von Esther Hansen; 608 Seiten, 26 Euro

Bild von John Iglar auf Pixabay

4 Kommentare zu „Francesca Melandri – „Alle, außer mir“

  1. Liebe Constanze,
    da hast du mich mit deinem Beitrag an diesen tollen Roman erinnert, in dem ich nicht nur der Spurensuche Ilarias und ihren Recherchen zu dem jungen Attillio, der da auf ihren Stufen saß, gefolgt bon, sondern bei diesen recherchen auch viel gelernt habe über die Geschichte Italiens.
    Viele Grüße, Claudia

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    1. Vielen Dank, liebe Claudia, für Deinen Kommentar. Ich denke, dieses Kapitel italienischer Geschichte ist wohl auch den wenigsten hierzulande bekannt. Also, ich wusste wenig bis gar nichts darüber. Ich fand auch die Verbindung zur jüngsten Vergangenheit sehr spannend. Jedenfalls hat mich der Roman sehr beeindruckt und berührt. Und ich hoffe, es findet auch weiterhin viele Leser. Es wird wohl auch nicht das Buch von Melandri sein, das ich lese. Viele Grüße

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