Frédéric Brun – „Perla“

„Mein Schmerz lässt mich verstehen, dass der eigentliche Lebensweg ins Innere führt und Perla in mir ist.“

Am 31. Juli 1944 setzt sich von Frankreich aus der Konvoi 77 mit rund 1.300 Personen, darunter mehrere Hundert Kinder, in Bewegung. Das Ziel: das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Unter ihnen: Perla, eine junge, lebenslustige und attraktive Frau. Sieben Monate lang durchleidet sie die unerbittliche Gewalt, Qualen, Hunger. Sie sieht andere sterben, riecht den Geruch der Verbrennungsöfen, hört die Schreie und das Stöhnen. Perla überlebt und kehrt nach Frankreich zurück, ihre Erlebnisse brennen sich als Schmerz in ihr Innerstes ein. Gepaart mit einer unauslöschlichen Angst verursacht dieser starke Depressionen.  Frédéric Brun hat ein Buch über seine Mutter geschrieben, ein nur schmaler, indes preisgekrönter Band, der Worte für das Unfassbare findet und den Leser tief berührt und prägt.

Das Schreiben – ein inniger Akt des Festhaltens

Noch gibt es Zeugen dieses Grauens, die erzählen und darüber schreiben können – der Nachwelt zur Erinnerung. Doch ihre Zahl wird weniger. Es bricht die Zeit an, mit der es an der nächsten Generation liegt, das Wissen und Erlebte weiterzugeben. Obwohl die Voraussetzungen schwierig sind. Denn oft haben die Älteren geschwiegen und die Jüngeren nicht gefragt. Auch Brun erzählt darüber, wie dieses Unvorstellbare als dunkler Teil in der Beziehung zwischen Mutter und Sohn herausragt. Sein Schreiben ist ein inniger Akt des Festhaltens, nachdem seine Mutter, die als Jüdin nie ihre Religion praktiziert hat und deren Bruder in den ersten Monaten des Zweiten Weltkriegs gefallen war, starb.

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Neben dem Schreiben geben die Literatur und die bildende Kunst, allen voran die Werke der deutschen Romantik, Brun einen Halt. Er beschäftigt sich intensiv mit den Büchern, speziell mit den Bildungs- und Entwicklungsromanen, von Novalis, Friedrich Hölderlin, Friedrich Schlegel und Karl Philipp Moritz. Er beschreibt bekannte Gemälde von Caspar David Friedrich. Mit Deutschland fühlt er sich trotz seiner schmerzvollen Familiengeschichte verbunden. Immer wieder fragt er sich, wie kann ein Land solche herausragende Kunst und gleichzeitig so viel Leid und Grauen verursachen. Auf diese oft gestellte Frage findet auch er keine Antwort. Wie es wohl auch keine Antwort geben wird, warum der eine während der Shoa überlebt, dem anderen sein Leben ausgelöscht wurde. Es ist kein Geringerer als der gefürchtete KZ-Arzt Joseph Mengele, der mit einem Fingerzeig über das Schicksal von Perla entschied: Innerhalb weniger Sekunden korrigierte er seinen ersten Entschluss und schickte somit die junge Frau, die aus Polen stammte und nach Frankreich emigriert war, nicht in die Gaskammer.

„Das Leben stiftet unerklärliche Wendungen, je nach Charakter und Ereignis. Ich will in meinen Erinnerungen nachspüren, bis dort keine schwarze Tinte mehr ist.“

Das Buch, das Brun Roman nennt, zeichnet sich durch eine unchronologische Folge von Erinnerungen, Beschreibungen und Gedanken aus. Der Leser springt zwischen den Zeiten und Themen. Der Autor findet eindrückliche Worte für das unermessliche Leid genauso wie für den Schmerz beim Tod von seiner Mutter, der später auch Bruns Vater André, ein Varietékünstler, folgen wird. Brun beschreibt die Liebe zu seiner Frau und das Werden seines Sohnes, mit dem ein neues Leben beginnt. Er berichtet über seine Lektüre von Werken über Auschwitz und Auschwitz-Überlebenden. Er übt Kritik an der modernen Zeit, einer leeren Epoche – mit all ihrem Lärm, ihren Moden, ihrem stetigen Streben nach Reichtum, er selbst will sich trennen von all den unnötigen Dingen. Wie die Helden der romantischen Bildungsroman erlebt Brun eine Entwicklung seiner selbst. All diese emotionalen Bilder, seelischen Empfindungen und Selbstreflexionen erinnern an ein Gemälde, auf dem die verschiedenen Farben zusammenfließen. Fotografien, Porträts sowie Abbildungen von den Gemälden von Caspar David Friedrich begleiten den Text, geben dem Leser die Möglichkeit zu verharren, inne zu halten.

2007 erschienen, mit Prix Goncourt geehrt

Bruns Roman erschien in Frankreich im Original bereits 2007 als erster Teil einer Trilogie, die der Franzose seiner Familie gewidmet hat. Für den ersten Band „Perla“ erhielt er den renommierten Prix Goncourt. Nun, 13 Jahre später, gab der wieder begründete Leipziger Verlag Faber & Faber die meisterhafte deutsche Übersetzung des Werkes von Christine Cavalli heraus. Wer „Perla“ liest, wird vielleicht weinen, auf jeden Fall die Trauer nachempfinden und danach die Stille suchen. Und obwohl dieses vielschichtige Buch so dunkel und voller Schmerz ist, enthält es auch eine leise, leuchtende Hoffnung, die im Teilen des Schmerzes und im bewussten Blick auf wundersame Dinge des Lebens wie die Liebe und die Kunst liegt.


Frédéric Brun: „Perla“, erschienen im Verlag Faber & Faber, in der Übersetzung aus dem Französischen von Christine Cavalli; 128 Seiten, 20 Euro

Foto: Monica Volpin/pixabay

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